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Corona und hochsensible Familien

Schon wieder Corona…

Jedes Mal, wenn ich mich in letzter Zeit mit einer lieben Freundin treffe, nehme ich mir vor, nicht über Corona zu sprechen. Trotzdem landen wir dann früher oder später punktgenau bei diesem Thema.

Ja es ist eben das, was mich im Moment umtreibt, wo sich mir sowohl als Therapeutin als auch als Familienfrau immer wieder neue Fragen und Herausforderungen stellen.

Was bedeutet Corona für hochsensible Familien?

Deshalb sitze ich nun da und schreibe zusätzlich zu Corona und dem, was Corona mit Familien mit hochsensiblen Kindern und hochsensiblen Elternteilen macht.

Vermutlich kommen dir jetzt die vielen Infomails aus der Schule oder aus Kinderbetreuungseinrichtungen, ständig wechselnde Bestimmungen und als Folge ständiges Umdisponieren des Familienalltags in den Sinn.

Und vielleicht spürst du, wenn du dir erlaubst, jetzt gerade in dich zu horchen, dass dein Kraftverlust diesbezüglich gross ist. Mir jedenfalls geht es so.

Was sagt die Expertin Melanie Vita dazu?

Deshalb wollte ich von Melanie Vita wissen, welches die grössten Stolpersteine für Familien mit hochsensiblen Familienmitgliedern während der Corona-Zeit sind und welche Lösungen es dafür gibt.

Und ich mag dir, liebe Leserin, lieber Leser, an dieser Stelle schon verraten, dass wir im Gespräch auf eine spannende Hypothese gestossen sind – dass nämlich hochsensible Menschen durch ihre feine Wahrnehmung eine wunderbare Ressource besitzen, während der Coronakrise in ihrer Kraft zu bleiben. Das gilt nicht nur für Eltern und Kinder, sondern für alle feinfühligen Menschen.

Melanie Vita ist Expertin für Hochsensibilität, Lerntherapeutin und Buchautorin. Sie berät seit nunmehr 10 Jahren hochsensible Familien, Kinder und Jugendliche in Ulm und ist selbst Mutter einer 4-jährigen Tochter.

Auf die Frage, was seit Corona für hochsensible Familien anders ist, beschreibt Melanie Vita ihre Erfahrung aus den Beratungen in Bezug auf die Phasen, die wir bis heute während der Pandemie durchlaufen haben:

Aufatmen im Lockdown

Während des Lockdowns hätten viele ihrer hochsensiblen Klient:innen vorerst einmal aufgeatmet und den ungewohnten Stopp des hektischen Alltags als Ausstieg aus dem Hamsterrad bezeichnet.

Viele hätten die Isolation erstmal als Erleichterung erlebt, weil sie sich nun auf sich selbst und auf die Familie fokussieren und in einem für sie stimmigen Tempo leben konnten, ohne ständig den Erwartungen im Aussen entsprechen zu müssen.

Erst die längere Fixierung der Familien auf sich selbst und die Unmöglichkeit, sich extern Ausgleich zum Beispiel durch Sport und Musikstunden zu holen, hätten dann eine neue Belastung für ihre hochsensiblen Klient:innen ergeben.

Der Anspruch auf Flexibilität lässt die Kräfte schwinden

Mit der Aufhebung des Lockdowns und der Einführung ständig wechselnder Bestimmungen sei dann zusätzlich ein immens hoher Anspruch auf Flexibilität an Familien hinzugekommen, was hochsensible familiäre Systeme besonders schwer belastet habe, da diese umso reibungsloser funktionieren würden, je mehr Orientierung, Fixpunkte und Rituale vorhanden sind.

Die Familie muss fehlende Strukturen und Kontinuität im Aussen kompensieren

Häufig wechselnde Regeln führen dazu, dass es keine Kontinuität in der Schul- und Betreuungsstruktur mehr gibt, worunter hochsensible Kinder stark leiden würden, weil ihr Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle aufgrund ihrer feinen Wahrnehmung und damit verbundenen raschen Reizüberflutung gross sei.

Melanie Vita berichtet, wie sie erlebt hat, dass besonders für jünger Kinder mit jeder neuen Regelung betreffend Gruppenzusammensetzung, Örtlichkeit oder Angebotsdauer eine weitere Eingewöhnungsphase begann und sich zeitweise fast im Wochentakt wiederholte. Das bedeute für hochsensible Familien sehr viel Stress und einen hohen Kraftaufwand, immer wieder die fehlende Stabilität im Aussen mit familieninternen Strukturen zu kompensieren.

Von der Angst, nicht länger alles unter einen Hut zu kriegen

Die heutige Situation in Deutschland lasse mit 3G wieder viel mehr Freiheiten zu und biete auch mehr Stabilität, was öffentliche Institutionen angehe. Daher gelte es nun die Herausforderung zu meistern, wieder alles im Familienalltag unter einen Hut zu bringen. Deshalb ist Melanie Vita in ihren Beratungen zunehmend mit der Schwierigkeit hochsensibler Familien konfrontiert, alle Anforderungen vor Corona zusätzlich zu den Herausforderungen mit Corona zu bewältigen.

Hinzu komme die Angst, dass die Lage wieder unsicher werden könnte und damit die soeben wiedergefundene innerfamiliäre Struktur erneut dahinfallen würde.

Fazit: So viel Fremdbestimmung führt in die Erschöpfung

Zusammenfassend auf meine erste Frage an Melanie Vita kann festgehalten werden, dass die hohe Flexibilität, die bedingt durch Corona von uns allen gefordert ist, gerade für hochsensible Kinder und ihre Familien eine grosse Herausforderung bedeutet, um das hohe Bedürfnis nach Sicherheit und Struktur hochsensibler Menschen in einer äusserst fremdbestimmten Zeit befriedigen zu können.

Welche Lösung gibt es?

Was kann gegen diesen Kraftverlust in der ständigen Bemühung um Stabilität in einer äusserst instabilen Zeit folglich getan werden? Das ist meine nächste Frage an meine Gesprächspartnerin:

Es gehe darum, persönliche Kraftquellen zu aktivieren, lautet die Ermutigung von Melanie Vita.

Gleichzeitig weist die Beraterin darauf hin, dass dies nicht ganz einfach sei, weil gerade viele Aktivitäten, die vor Corona eine Krafttankstelle waren, heute eben nicht zur Verfügung stehen.

Deshalb gelte es zu fragen, wie ich aus mir selbst Kraft schöpfen kann.

Wie ich aus mir selbst Kraft schöpfe

Genau dafür entpuppt sich in unserm Gespräch die feine Wahrnehmung hochsensibler Menschen als Schatz.

Während die feine Wahrnehmung im Alltag vor Corona häufig in die Reizüberflutung führte, weil die Gerüche zum Beispiel beim Einkaufen zu intensiv, die Musik zu laut und das Licht zu schrill sind, wird sie im eingeschränkten Corona-Alltag zur Perle.

Die Natur, lange einziger Ort für eine Beschäftigung ausserhalb des eigenen Zuhause, unterstützt diesen Prozess, indem sie zur sinnlichen Wahrnehmung einlädt und damit viel Spielraum für die feine Wahrnehmung hochsensibler Menschen bietet.

Die feine Wahrnehmung: vom Problem zur Ressource

So verwandelt sich die feine Wahrnehmung – vorausgesetzt sie wird bewusst genutzt – in der einschränkenden Corona-Zeit mit wenig Ablenkung im Aussen zu einer persönlichen Kraftquelle.

Denn durch die feine Wahrnehmung rücken die kleinen Wunder in den Vordergrund. Das sind die Augenblicke, in denen zum Beispiel der Kaffeeduft nicht selbstverständlich ist, sondern wahrer Genuss. Das sind die Momente, in denen eine Rose zu einem Wunder oder das Summen des Lieblingsliedes persönliche Medizin werden.

Ist das nicht wunderbar, wenn sich die feine Wahrnehmung, die im geschäftigen Alltag vor Corona allzu oft in die Reizüberflutung geführt hat, zur persönlichen Kraftquelle wandelt und unsere Sinnesorgane eine mögliche Lösung gegen Kraftverlust durch Corona sind?

Ja gewiss, und Kinder sind genau darin sowieso Meister.

Wie aber gelingt es, mitten im Stress sich dieser Fähigkeit bedienen zu können?

Selbstmitgefühl hilft

Melanie Vita hat folgende Antwort: Für sie ist Selbstmitgefühl die Lösung. Es macht es möglich, sich der eigenen feinen Sinneswahrnehmung als Ressource trotz Stress bedienen zu können, weil es immer wieder zum Innehalten einlädt.

Eine Pause einlegen und durchatmen

Selbstmitgefühl ist das Selbsteingeständnis, dass die Situation gerade streng und herausfordernd ist, dass es deshalb normal ist, sich müde zu fühlen, und dass es vor allem in Ordnung ist, jetzt eine Pause zu machen. Dass es notwendig, sogar zwingend ist, zwischendurch Stopp zu sagen und durchzuatmen, am besten gemeinsam mit der ganzen Familie.

Selbstmitgefühl bringt uns ebenso in den Dialog mit unserem Körper und lässt uns seine Signale verstehen. Da sind vielleicht die Bauchschmerzen des Kindes vor dem Schulstart nach dem Lockdown, wie Melanie Vita aus ihrer Beratung berichtet. Sie sind ein Zeichen dafür, dass wir im Moment mit viel Unsicherheit konfrontiert sind, und verschwinden, wenn Wiedereingewöhnung in die Schule gelungen ist. Ein liebevoller Umgang mit sich selbst lindert sie jedoch auch schon im Vorfeld.

Vom Selbstmitgefühl über Achtsamkeit zur feinen Wahrnehmung

Selbstmitgefühl führt zu Achtsamkeit und damit weiter zur eigenen feinen Sinneswahrnehmung als hochsensible Kraftquelle ohne Zertifikatspflicht.

Noch effizienter wird es, wenn wir es wie die Kinder tun

Paaren wir unsere feine Wahrnehmung zusätzlich mit der kindlichen Fähigkeit, nach jedem Sturz wieder aufzustehen und generell nicht zu bewerten, dann finden wir noch mehr kleine wundervoll grosse Momente, aus denen die ganze Familie gestärkt hervorgeht, dies die Erfahrung der Expertin.

In diesem Sinn wünschen wir dir, liebe Leserin, lieber Leser, viel Achtsamkeit für eben diese ruhigen Minuten, in denen sich deine feine Wahrnehmung austoben kann und dir immer neue kleine grosse Wunder offenbart!

Cartoon: ©Jonas Greese, Portrait Melanie Vita: ©Melanie Vita, übrige Fotos: ©Claire Schubnell

Über den/die Autor*in

Claire Schubnell ist Systemisch Lösungsorientierte Kunsttherapeutin LOMSYS® sowie Körperzentrierte Psychologische Beraterin IKP und arbeitet mit hochsensiblen Erwachsenen und Kindern in Einzelberatungen und Austauschgruppen in ihrem Atelier in Bern oder online. Aktuell startet anfangs 2024 die Gruppe für hochsensible Frauen neu als Reise ins Reich der weiblichen Urkraft und in die eigene Mitte. Mehr dazu auf meiner Website.

Infos unter www.claireschubnell.ch

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