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Hochsensibilität und Trauma-Auflösung bei Kindern und Jugendlichen

Wie können wir unsere Kinder und Jugendlichen unterstützen?

Von einer hohen Aktivierung hin zur „down-regulation“ unseres autonomen Nervensystems – warum dies für die Begegnung mit hochsensiblen Kindern und Jugendlichen wichtig ist.

Wahrnehmung und Selbstregulierung bei Kindern und Jugendlichen

Hochsensible Kinder und Jugendliche nehmen mehr/anders wahr. Dies führt dazu, dass sie sich manchmal schneller überflutet fühlen. Meist sind die Kinder und Jugendlichen bereits „Expert*innen“ (oder werden es zunehmend), wie sie mit Überflutungsmomenten in ihrem Alltag konstruktiv umgehen können und regulieren sich laufend. Und doch ist es oft eine grosse Herausforderung, diese „Zusatzarbeit“ zu leisten und sich immer wieder zu schützen bzw. einzumitten, dies gerade in einem Entwicklungsalter, in dem es auch um das Ausloten einer gesunden Autonomie und Erkundungsfreude geht.

Überflutung erkennen, bevor die Wellen über einem zusammenschlagen und der Überlebensmodus einsetzt?

Wenn die Kinder und Jugendlichen selbst zu Früherkenner*innen ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens werden und selbst merken, wenn etwas zu gross, zu schnell, zu heftig für sie ist (vgl. Definition von Trauma nach Somatic Experiencing*), dann können sie mehr und mehr ihrem Umfeld Anweisungen geben, welche spezifische Art von Unterstützung hilfreich sein könnte, um ihr eigenes Auf- und Erblühen zu fördern (vgl. Keyes – Modell des doppelten Kontinuums). Um dies zu tun bzw. damit die gutgemeinten Unterstützungsangebote von Menschen im Umfeld für hochsensible Kinder und Jugendliche greifbar und nachhaltig sinnvoll werden, scheint es wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen ihr Erfahrungswissen und ihre Bedürfnisse artikulieren bzw. ausdrücken können.

Wir alle können hochsensible Kinder und Jugendlichen darin unterstützen, ihre Bedürfnisse zu äussern (z.B. durch Empowerment und Educating)

Die Haltung des Empowerment zielt in die Richtung, Kinder und Jugendliche zu ermächtigen, ihr grosses Erfahrungswissen (Körperwissen) im Umgang mit der verfeinerten Wahrnehmung aufgrund der Hochsensibilität auch neurobiologisch zu verorten bzw. einzuordnen. Die Kinder und Jugendlichen müssen also – z.B. über uns Unterstützende – über Abläufe ihres eigenen autonomen Nervensystems und allfällige Trauma-Symptome bzw.-Phänomene Bescheid wissen, um ihre Bedürfnisse nach Unterstützung (somatisch) differenziert eruieren zu können.

Das Trauma-Verständnis von SE (Peter Levine) bezieht sich auf das somatische Erfahren von Überflutungserlebnissen und allfällig nichtvollendetet Verteidigungsreaktionen des Körpers, was sich als „steckengebliebenen“ Energie im ANS manifestiert und zu Einschränkungen und Einschränkungsverhalten (wie auch damit verbundenen Symptomen) im Alltag führt. Das ist bei Kinder und Jugendlichen nicht anders als bei Erwachsenen. Gerade für hochsensible Kinder und Jugendliche aber kann das autonome Nervensystem schneller aktiviert sein, da sie sich und ihre Umwelt vielfältiger und vielschichtiger wahrnehmen.

Es stellt sich somit die Frage, wie wir Kinder und Jugendliche darin unterstützen können, ihr eigenes autonomes Nervensystem (ANS) „lesen“ zu lernen und konstruktive Strategien zu generieren, die ihnen in ihrem Alltag helfen, ihre Hochsensibilität als Gewinn und Ressource zu erleben.

Was wir über die Co-Regulierungs-Fähigkeit des autonomen Nervensystems wissen sollten

Wenn wir mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben (seien es unsere eigene Kindern, denen wir in der Rolle als Eltern begegnen oder aber auch im beruflichen Kontext), dann sind wir angehalten, unsere eigene innere Haltung wie auch unseren eigenen Organismus (die Biologie von Trauma-Erfahrung) zu kennen. Warum ist das so?

Immer öfters trifft die Situation ein, dass uns Kinder und Jugendliche mit einer überaus hohen Sensibilität gegenüberstehen. Um mit Ihnen in eine unterstützende Beziehung zu treten bzw. ein Beziehungsangebot machen zu können, ist es wichtig, dass wir wissen, was wir (für sie) ausstrahlen, je nachdem wo wir uns mit unserem eigenen Regulierungssystem bzw. autonomen Nervensystem bewegen.  

Unabhängig davon, ob wir selbst hochsensibel sind oder nicht, unser Organismus bzw. unser autonomes Nervensystem ist dafür eingerichtet, mit herausfordernden – gar überflutenden – Erfahrungen und Wahrnehmungen so umzugehen, dass wir in unserem Körper reguliert bleiben.

Wie bei Tieren ist auch unsere menschliche Biologie fähig, bei einer Bedrohung (immer dann wenn etwas als zu viel, zu schnell oder zu plötzlich erlebt wird) mit Flucht, Kampf oder Todstellen zu reagieren, um uns dann, nach Vollendung unserer Verteidigung, wieder einzumitten. Leider ist es jedoch in unserem Leben als Menschsein oft nicht möglich, eine solche Verteidigungsreaktion voll und ganz auszuführend und die dafür bereit gestellte Energie zu entladen.

In der Trauma-Arbeit nach Peter Levine (Somatic experiencing – SE) wird Trauma somit folgendermassen definiert: „Ein Trauma ist im Nervensystem gebunden. Es ist somit eine biologisch unvollständige Antwort des Körpers auf eine als lebensbedrohlich erfahrene Situation. Das Nervensystem hat dadurch seine volle Flexibilität verloren. Wir müssen ihm deshalb helfen, wieder zu seiner ganzen Spannbreite und Kraft zurückzufinden.“(Peter Levine)

Der Begriff „Trauma“ aus Sicht des SE bezieht sich somit nicht auf ein Ereignis bzw. eine Geschichte, sondern auf die „Gesamtheit aller steckengebliebenen Reaktionen auf ein lebensbedrohliches Ereignis“ (vgl. https://www.somatic-experiencing.de/was-ist-somatic-experiencing/).

Trauma-Erfahrung im Sinne einer Aktivierung im autonomen Nervensystem gehört zu unserem Menschsein

Wir alle kommen nicht umhin, Trauma-Erfahrung im oben genannten Sinne zu machen. Es ist schlichtweg nicht möglich, dass wir ganz ohne Bedrohungsempfindung unser Leben im Kontext unserer Gesellschaft leben können. Ebenso ist es sehr oft nicht möglich, die vorgesehene körperliche Verteidigungsreaktion so zu vollenden, dass wir von der Sympathikus-Bewegung unseres Nervensystems wieder in ein parasympathisches Gleichgewicht gelangen. Somit haben wir alle mit steckengebliebener Energie im Körper zu tun. Trauma-Auflösung auf der Basis und im Rahmen der Somatic experiencing-Arbeit konzentriert sich darauf, dem Körper zu erlauben, eine neue (sichere) Körpererfahrung zu machen und die steckengebliebene Energie mittels dafür geeignete Methoden verlangsamt und titriert zu entladen bzw. zu re-integrieren.*** 

Was wir alle erleben, kann im Falle einer Hochsensibilität verstärkt empfunden werden. Es ist naheliegend, dass hochsensible Kinder und Jugendliche einerseits in ihrer Wahrnehmung so verfeinert unterwegs sind, dass es für Sie (noch) häufiger zu Überflutungsempfindungen kommt und somit auch öfters ihre Verteidigungsmechanismen ausgelöst werden. Andererseits gilt es zu berücksichtigen, dass sich Kinder und Jugendliche zudem in vulnerablen Entwicklungsphasen befinden – dies u.a. auch im Kontext ihrer Entwicklungs- und Bewältigungssaufgaben innerhalb der Gesellschaft.

Einerseits können einfache Techniken aus der SE-Arbeit den Betroffenen helfen, sich selbst bzw. ihr autonomes Nervensystem „lesen“ zu lernen und sich zu regulieren, andererseits ist es aber gerade auch für Menschen, welche hochsensible Kinder und Jugendliche begleiten (wollen), wichtig zu wissen, wie sie mit sich selbst so arbeiten können, dass sie eine Co-Regulierung im Rahmen eines sicherheitsspendenden Beziehungsangebotes offerieren können.

Wir sind nicht getrennte, voneinander unabhängige Wesen – wie stehen in ständiger Interaktion miteinander

Im Wissen darum, dass wir als Menschen zutiefst beziehungsorientiert und –abhängig sind (vgl. Fairbairn****), empfiehlt es sich, diese Verbindung miteinander und zueinander unterstützend zu nutzen. Mitgefühl kann „kultiviert“ werden. Unsere autonomen Nervensysteme können sich gegenseitig bei der Co-Regulierung helfen. Wenn wir wissen, wie wir uns selbst regulieren können, dann sind wir auch fähig, unserem Gegenüber so zu begegnen, dass er/sie sich (co-)regulieren kann. Gerade hochsensible Kinder und Jugendliche spüren sehr genau, wie aktiviert bzw. wie reguliert wir ihnen begegnen.

Fazit

Was wir brauchen, wenn wir hochsensible Kinder und Jugendliche so unterstützen möchten, dass diese ihre Hochsensibilität als Ressource erleben (und allfällige, aufgrund von Überflutungserleben im Nevensystem gebundene Trauma-Energie auflösen und re-integrieren können): 

  • Wissen um die Biologie von Trauma und die Co-Regulierungsfähigkeit unseres autonomen Nervensystems (ANS)
  • Ein reguliertes Nervensystem unsererseits (was sich durch eine „eingekörperte“ Präsenz zeigt) bzw. die unaufhörliche Bereitschaft, uns immer wieder selbst zu regulieren bevor/während wir in Begegnung mit hochsensiblen Kinder und Jugendlichen gehen bzw. wenn wir ein Beziehungsangebot machen
  • Die Grosszügigkeit, unser Wissen (zur Biologie vonTrauma und zur Funktion des ANS) mit den Kindern und Jugendlichen zu teilen, so dass diese befähigt werden, ihr eigenes autonomes Nervensystem zu „lesen“ (Educating, Empowerment)
  • Eine innere Haltung und Bereitschaft, ein echtes Beziehungsangebot zu machen (und uns auch „durchschauen zu lassen“, falls ein solches nicht erwartungsfrei ist)
  • Die Bereitschaft, uns auf die Anweisungen/Bedürfnisäusserungen von hochsensiblen Kindern und Jugendlichen einzulassen, sie ernst zu nehmen als Expert*innen bzw. Früherkenner*innen ihres eigenen Wohl- und Unwohlseins wie auch, uns immer wieder überraschen zu lassen.

Wie man sich selbst auf der Basis des Wissens aus der SE-Arbeit regulieren kann, (Methoden / Tools zur „downregulation“ und Wissen um das Neurobiologische Geschehen in unserem ANS) werden wir im Workshop u.a. auch praktisch erkunden.

Über den/die Autor*in

Susanne Streibert

Susanne Streibert ist Sozialarbeiterin MA und Traumatherapeutin SE. Seit 20 Jahren ist sie in der Schulsozialarbeit tätig und begleitet zudem Kinder und Jugendliche in ihren lebensweltlichen Themen. Als Fachfrau für Mädchenarbeit hat sie sich zudem auf die Begleitung von Mädchen auf dem Weg zur Frau ausgerichtet. Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Sozialarbeiterin macht sie die Trauma-Arbeit vor allem für Kinder und Jugendliche niederschwellig zugänglich. Susanne Streibert unterrichtet zudem als Dozentin an der Fachhochschule vorwiegend zum Thema psychische Gesundheit. Sie ist Mutter einer 12jährigen Tochter, verheiratet und lebt in Rheinfelden.

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