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Plädoyer für einen differenzierten Umgang mit dem Begriff Narzissmus in der Hochsensibilitäts-Szene

Dass klinische Fachwort narzisstische Störung oder verkürzt Narzissmus scheint in aller Munde zu sein. Insbesondere auch in der Hochsensibilitäts-Szene. Dort oftmals um vermeintliche Narzissten um sich herum zu identifizieren, und sich gleichzeitig selbst als Opfer der selbigen zu stilisieren. Aus meiner Wahrnehmung heraus wird hierbei allzu leichtfertig und schnell die Betitelung „Narzisst“ verwendet. Ein Plädoyer für einen differenzierten und sachlichen Umgang mit diesem Begriff.

Jahrelang ging man in der tiefenpsychologischen Forschung davon aus, dass sich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung im Wesentlichen auf zwei Ursachen zurückführen lässt (verkürzt ausgedrückt):

  1. Mangel: Einem Mangel seit frühester Kindheit (0-5 Jahren) an Zuwendung, Aufmerksamkeit, Zärtlichkeit, Liebe, sowie ein allgemeines Interesse und Verständnis für das Kind.

  2. Überbehütung: Das Kind wird von seinen Eltern abgöttisch geliebt, bewundert oder idealisiert. So lernt es nicht, Schwierigkeiten zu ertragen, mit Frustrationen und Niederlagen umzugehen und Kränkungen zu verkraften.

Überarbeitung der Kriterien zum Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung im neuen ICD-11

Heute geht man in der Ätiologie (Ursachen) von einem multifaktoriellen Zusammenspiel von diversen Faktoren wie Genetik, Erziehung, Bindung, Schutzfaktoren bei der Prägung oder auch Störung einer Persönlichkeit aus.

Diesem Umstand wird auch das neue ICD-11 gerecht. Das Klassifikationshandbuch, das jeder deutschsprachige Therapeut zur Stellung einer Diagnose heranzieht.

Im künftig geltenden Handbuch für Psychotherapeuten, das zwar zum 1.1.2022 eingeführt wurde, aber noch übersetzt werden muss, wird es unter anderem die alleinige Diagnose / Kennziffer narzisstische Persönlichkeit nicht mehr geben.

Für einige Psychologie-Professoren gleicht diese Überarbeitung einer Revolution in der psychiatrischen Welt. Weil dort bis dato ausschließlich in Krankheitsmodellen gedacht wurde: Ab hier noch gesund, ab da krank.

Als Begründung für die Überarbeitung wird angegeben, dass in der Vergangenheit Patienten meist in Schubladen eingeordnet wurden, die aber nie so richtig passten. Das überarbeitete Handbuch will Persönlichkeitsstörungen in Zukunft differenzierter und breiter erfassen – und streicht die Diagnose Narzissmus aus dem Katalog.

Ein Kritikpunkt an der bisherigen strickten Einordnung in Kategorien, wie zum Beispiel Persönlichkeitsstörungen, ist, dass viele empirische Untersuchungen gezeigt haben: es gibt keine eindeutige Trennung zwischen einer gesunden, einer normalen Persönlichkeit und einer gestörten Persönlichkeit. Sondern es gleicht im Grunde einem Kontinuum und natürlich ab einem bestimmten Punkt kann dann ein Leidensdruck auftreten. Diese Schwelle, ab wann es quasi pathologisch wird, und der Betroffene Hilfe benötigt, wurde bisher ausschließlich in Expertenrunden festgelegt. Unsere Persönlichkeit ist aber komplex, es überlappen sich oftmals verschiedene Anteile und Ausprägungen.

Ein weiterer, seit Jahren anhaltender Kritikpunkt, ist, dass „Etiketten“, wie beispielsweise eine zwanghafte oder narzisstische Persönlichkeit zu haben, stigmatisieren und oftmals das Leid oder die Schuldgefühle bei den Patienten noch verstärken. Diagnosen können jedoch auch entlastend oder identitätsstiftend sein für den Patienten, in der Fachsprache nennt man das „primärer Krankheitsgewinn“.

Eine alleinige Zuschreibung auf ein Störungsbild, insbesondere bei ich-syntonen (mir zugehörig fühlenden) Persönlichkeitsstörungen entspricht jedoch schon länger nicht mehr der Studienlange.

Solche Zuschreibungen (Diagnosen) suggerieren, dass ein Mensch anders ist und so bleiben wird. Aber das stimmt so nicht. Persönlichkeitsstörungen müssen keineswegs von Kindheit an bestehen und lebenslang stabil bleiben. Das belegen Langzeitstudien inzwischen ziemlich eindeutig.

Doch damit ist auch das Kernkriterium obsolet geworden, mit dem Persönlichkeitsstörungen, wie zum Beispiel die narzisstische, bisher von anderen Störungen abgegrenzt und diagnostiziert wurden.

Narzissmus: Vereinfachungen und vorschnelle Einteilung in unvereinbare Gegensätze

Das was da an Paradigmenwechsel in der psychiatrischen Welt mit Einführung des neuen ICD-11 kommt, das ist exakt meine Sicht als Autor und Coach auf das breite Spektrum von Narzissmus, Hochsensibilität oder Entwicklungstrauma seit jeher: Eine seriöse, sachliche und differenzierte Betrachtungsweise.

Hier wurde in der Vergangenheit das eine oder andere Mal der (unberechtigte) Vorwurf an mich herangetragen – auch von HSP-Experten -, ich würde die Verhaltensweisen von (pathologischen) Narzissten relativeren oder diese sogar in Schutz nehmen, weil ich nicht klar trenne, was zu noch mehr Leid bei den „Opfern“ führen würde.

Mein Ansatz ist der einer Bandbreite: von Graden, Ausprägungen, Graubereichen. Jenseits von einseitigem Schwarz-Weiß-Denken. Ja, auch beim Thema Narzissmus. Ich beziehe mich da unter anderem auf die Erfahrung und Forschung des Harvard-Dozenten Dr. Craig Malkin.

Übrigens: Auf solch einer Skala wird selbstredend an dem einen Ende auch ein pathologischer (boshafter) Narzissmus abgebildet, bei dem meist nur noch eine Empfehlung auszusprechen ist: Distanzieren Sie sich so schnell wie möglich von solch einem Menschen (oder toxischen Beziehung)! Ganz besonders, wenn Sie sich selbst als selbstlos, empathisch oder feinfühlig bezeichnen.

Generell erachte ich jedoch vereinfachende Zuschreibungen oder Opfer-Täter-Spiralen nicht nur als deplatziert, sondern eben meist auch als ablenkend – und zwar von eigenen inneren Dynamiken, die verdrängt oder geleugnet werden.

Wir denken als Menschen zwar gerne in eindeutigen Zuordnungen – gut / böse, voll/leer -, da es uns Sicherheit und Ordnung gibt. Aber die Einteilung der Welt in abgegrenzte Kategorien entspricht nicht der Realität des Lebens. Nahezu alles im Leben weist Schattierungen, Graubereiche, Abstufungen auf. So auch Gesinnungen, Gefühle oder Wesensmerkmale.

Und genau jener mittlerweile gut erforschte Tatbestand wird künftig in der Diagnose und Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen abgebildet werden.

Plädoyer für mehr Nüchternheit und Differenzierung

Mein Eindruck ist, dass insbesondere in der Hochsensibilitäts-Szene das Thema Narzissmus ein absolutes Reizwort ist, das entweder komplett abgewehrt wird oder nur bei anderen gesehen wird.

Deshalb mein Appell an Betroffene wie Behandler:

Schauen Sie genau hin (vor allem bei sich selbst).
Informieren Sie sich.
Unterlassen Sie pauschale und vorschnelle Zuschreibungen.
Überlassen Sie (psychische) Diagnosen ausgebildeten Fachleuten.

Vorschnelle Zuschreibungen sagen oftmals mehr über den „Zuschreiber“ als über die vermeintliche Störung des Anderen aus. Zudem zeugt solch eine Haltung von einem professionellen und verantwortlichen Umgang mit sich selbst, aber vor allem im Umgang mit Klienten und Patienten.

In meiner gerade stattfindenden Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie wird diese Haltung von unseren Dozenten immer wieder vermittelt: Kein vorschnelles Festlegen einer Diagnose, wenn ein Patient zu euch kommt, er anfängt über gewisse Beschwerden oder Symptome zu berichten, und Ihr schon einen ersten Verdacht habt. Fragt genau und strukturiert nach, um eine differenzierte Anamnese zu erstellen, aus der Ihr dann am Ende eine Diagnose ableitet, die erst einmal eine Verdachtsdiagnose ist.

So verstehe ich mich als differenzierten Aufklärer, der versucht mit seinen Beiträgen für mehr Klarheit, Nüchternheit und Sachlichkeit beim emotional aufgeladenen Thema Narzissmus zu sorgen. Gerade auch in der Hochsensibilitäts-Szene.

Diese Nüchternheit kann aus meiner festen Überzeugung heraus allen Beteiligten im Sinne einer (neuen) Verständigung nur zugute kommen. Nicht nur beim Thema Narzissmus und Hochsensibilität.

Über den/die Autor*in

Oliver Domröse

Oliver Domröse arbeitet seit 2015 mit viel Herzblut als Autor, Blogger und Coach. Aktuell befindet er sich in der Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie.

Schwerpunkte: Hochsensibilität, Entwicklungstrauma, Narzissmusspektrum. Eigene Lebensumbrüche, gepaart mit erworbener psychologischer (Trauma)Kompetenz durch zahlreiche Seminare und Coachings, zeichnen ihn heute als Experten für authentische und ehrliche

Beziehungen und persönliche Entwicklung aus. Oliver wird an der diesjährigen Tagung einen Workshop anbieten und ein Referat halten.

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