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Verletzlichkeit in der Führung kann einen Hangover-Effekt auslösen

In der Welt der Team- und Führungsentwicklung wird oft ein wesentlicher Aspekt übersehen: der Umgang mit dem emotionalen „Kater“, der nach Momenten der Verletzlichkeit auftreten kann. Die Arbeit an Glaubenssätzen und das Bewusstsein für Abwehrmechanismen sollten für Führungskräfte selbstverständlich sein, um unerwünschte Effekte zu minimieren und ein gesundes Teamklima zu fördern.

Die vergessene Dimension der Führungsentwicklung

In zahlreichen Programmen zur Führungsentwicklung liegt der Fokus auf der Vermittlung von Techniken und Strategien für effektives Management, Kommunikation und Entscheidungsfindung. Doch die essenzielle emotionale und psychologische Facette der Führung, vor allem der konstruktive Umgang mit eigener Verletzlichkeit und deren emotionalen Folgen, bleibt oft unberücksichtigt.

Diese Lücke kann dazu führen, dass Führungskräfte emotionalen Herausforderungen unvorbereitet gegenüberstehen, besonders in heiklen Situationen, was zu Überforderung und Schamgefühlen führen kann. Unterdrücken wir diese Scham, verlieren wir an Authentizität und Handlungskompetenz in kritischen Momenten. Warum gehen mit Verletzlichkeit starke Emotionen einher? Prof. Brené Brown, eine Pionierin auf diesem Gebiet, führt dies auf die Stressreaktion unseres Körpers auf Scham zurück. Für persönliches Wachstum ist es unerlässlich, sich der Verletzlichkeit zu stellen. Doch Scham zu empfinden ist sehr schmerzhaft, verknüpft mit der tief verwurzelten Furcht vor sozialer Ausgrenzung, die in unserem limbischen System sitzt. Sie entsteht da, wo unser Selbstwert in der Kindheit angegriffen wurde und hält uns davon ab, uns in für uns bedrohlich anfühlenden Situationen zu exponieren.

Die Manifestation des Verletzlichkeits-Hangovers

Zeigen wir uns bei der Arbeit in einer Situation unter Mitarbeitenden offen, authentisch und verletzlich, so kann im Nachgang ein Kater-Zustand eintreten . Das Phänomen des „Verletzlichkeits-Hangovers“ zeigt sich nicht nur emotional, sondern kann auch körperliche Symptome mit sich bringen, ähnlich dem Hangover nach einer Party-Nacht. Doch anders als bei einem herkömmlichen Hangover, resultiert dieser Zustand aus der emotionalen und psychischen Entblössung, die wir uns im Kontext unserer Führungsrolle erlaubt haben.

Dieses Phänomen lässt sich durch die Theorie des sozialen Schmerzes erklären. Das Gehirn reagiert auf die potenzielle „Bedrohung“ unserer sozialen Bindungen oder unseres Ansehens mit einem Alarmzustand, der sich sowohl emotional als auch physisch manifestieren kann. Dieser emotionale Schmerz nutzt ähnliche neuronale Bahnen wie physischer Schmerz. Der Verletzlichkeits-Hangover ist somit eine natürliche, wenn auch herausfordernde Reaktion auf den mutigen Schritt der Offenheit. 

Es gilt, diese Reaktion zu erkennen und nicht zu überbewerten, um das Risiko einer Überkompensation zu vermeiden. Ich kläre deswegen auf:

Emotionale Symptome des Verletzlichkeits-Hangovers

  • Selbstzweifel: Plötzliche Unsicherheit bezüglich der Richtigkeit der eigenen Offenheit und Zweifel an der Wirkung des Gesagten auf andere.
  • Angst: Die Furcht vor negativen Konsequenzen unserer Offenheit, sei es in Form von Missbilligung, Ablehnung oder Konflikten innerhalb des Teams.
  • Überdenken: Ein endloses Wiederkäuen der Ereignisse, Analyse jeder Reaktion und Fragestellung, ob man zu viel preisgegeben hat.

Körperliche Symptome des Verletzlichkeits-Hangovers

  • Erschöpfung: Eine tiefgreifende Müdigkeit, die über das übliche Mass eines anstrengenden Arbeitstages hinausgeht.
  • Anspannung: Körperliche Verspannungen, besonders im Nacken- und Schulterbereich, als physischer Ausdruck des getragenen emotionalen Gewichts.
  • Schlafstörungen: Schwierigkeiten beim Einschlafen oder Durchschlafen, verursacht durch ein überaktives Gedankenkarussell.

Wieso die Überkompensation gefährlich ist

Glaubenssätze prägen unser Selbstbild und unser Verhalten und können sich destruktiv auf unseren Umgang mit Verletzlichkeit auswirken. Sind wir uns dessen nicht bewusst, besteht die Gefahr, dass der emotionale Hangover in unserem Gehirn Glaubenssätze wie „ich darf keine Schwäche zeigen“ oder „in der Führung ist man stark“ aktiviert, was uns zu unüberlegten Handlungen verleiten könnte.

Hier zwei Beispiele unerwünschter Konsequenzen:

Beispiel 1: Glaubenssatz „Ich darf keine Schwäche zeigen“ gepaart mit einem Vermeidungsverhalten: Bei der Führungsperson manifestiert sich durch den Verletzlichkeits-Hangover der Wunsch, künftig ähnliche Situationen zu vermeiden, um nicht erneut in eine solch unangenehme und überwältigende Situation zu geraten. Die Führungsentwickung und Weiterentwicklung des Teams wird dadurch gestoppt. Die Teammitglieder sind vermutlich irritiert, verunsichert und zweifeln an den Werten der psychologischen Sicherheit in der Abteilung. Sie werden sich tendenziell wenig(er) initiativ und innovativ zeigen, was zusätzlich die Innovationskraft des Unternehmens schwächen könnte.

Beispiel 2: Glaubenssatz „In der Führung ist man stark“ gepaart mit einem Dominanzverhalten: Bei der Führungsperson manifestiert sich durch den Verletzlichkeits-Hangover der Wunsch, sich als besonders entschlossen zu präsentieren, um jegliche vermeintliche Schwäche zu übertünchen. Dies zeigt sich nun in einer übertriebenen Dominanz bei Detailfragen oder in einer äusserst unüberlegten und risikoreichen Entscheidung. Dieses Verhalten verletzt die psychologische Sicherheit im Team, schwächt den Teamzusammenhalt, die Motivation und die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden. Und stellt ein Risiko für das Unternehmen dar.

Strategien für eine gesunde Bewältigung des Hangovers

Ein Teamklima mit hoher psychologischer Sicherheit unterstützt die Bewältigung des Hangovers. Es ermöglicht einen offenen Austausch über Gefühle und Ängste, was die emotionale Resilienz des Teams stärkt und bei der Bearbeitung des Hangovers eine sehr unterstützende Wirkung haben kann.

Weitere individuelle Massnahmen können sein:

  • Tiefes Atmen: Beruhigt das Nervensystem und sorgt für Klarheit.
  • Glaubenssatzarbeit: Umschreiben negativer Glaubenssätze in positive.
  • Energie-Shift: Wechseln in eine stärkende Energie z.B: durch Visualisierung.
  • Vertrauen im Prozess: Erinnerung daran, dass der Hangover vorübergeht.
  • Unterstützen lassen: Psychologische Beratung unterstützt die Verarbeitung.

Ein Appell für die Integration der inneren Arbeit (#InnerWork) in die Führungsentwicklung

Ich appelliere an die Integration des kompetenten Umgangs mit den Gefühlen der Verletzlichkeit als Kernkompetenz in der Führungsaus- und Weiterbildung. Es ist essentiell, dass Führungskräfte nicht nur dazu ermutigt, sondern auch darin geschult werden, tiefer in ihre eigene Psyche einzutauchen und diese zu verstehen. Dies stärkt nicht nur ihre persönliche Resilienz, sondern befähigt sie auch, ihre Teams effektiver zu unterstützen und zu leiten.

Psychologische Begleitung von Teams und Führungsprsonen zur Bearbeitung von limitierenden Glaubenssätzen, Teamkonflikten, Stärkung der Eigenverantwortung und Entwicklung der Selbstorganisation sehe ich als weitere Massnahme. Dieser proaktive Ansatz hilft, potenzielle Risiken zu minimieren und ein gesundes Fundament für Mitarbeitende, Führungspersonen und Unternehmen zu bilden.

Die Herausforderung und gleichzeitig die Schönheit der Führung liegt in der Balance zwischen Stärke und Verletzlichkeit. Indem wir uns der inneren Arbeit widmen, öffnen wir den Weg für eine tiefere, authentischere und letztlich wirksamere Führung.

Über den/die Autor*in

Oriana Chiandusso

Oriana begleitet Organisationen, Teams und Einzelpersonen dabei, zu innerer Freiheit und Stärke zu gelangen. Als körperzentrierte psychologische Beraterin integriert sie die Körpersprache in ihre Beratungsansätze. Statt nur über Gedanken zu sprechen, entdecken ihre Klienten über ihre eigenen Wahrnehmungen ihre innere Wahrheit, erweitern ihre Handlungskompetenzen und finden so innere Orientierung. Ihre Arbeitsweise ist kurzweilig, nährend und kreativ. In ihrem Blog berichtet sie regelmässig über Methoden und Ansätze für inneres Wachstum. Auf dem ersten Bildungsweg lernte Oriana Mediamatikerin mit technischer Berufsmatur, hat später BWL studiert und viele Jahre als Team- und Projektleiterin gearbeitet. Für die therapeutische Arbeit studiert sie am IKP Zürich und bildet sich laufend weiter.

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