Versteckte Neurodivergenz erkennen

Wenn Stress und Erschöpfung tiefere Ursachen haben.
Was als übliche Stress- und Erschöpfungssymptome abgetan wird, hat manchmal eine tiefere Ursache als der fehlende Schlaf oder die Überforderung bei der Arbeit und braucht grundlegende Lebensveränderungen: es kann eine versteckte Neurodivergenz vorliegen. Also eine individuelle Abweichung vom „typischen Gehirn“, die mit besonderer Anpassungsleistung soweit kompensiert wurde, dass das eigene Verhalten den Erwartungen des Umfeldes entspricht. Man könnte auch sagen, dass die „Andersartigkeit“ von Kind auf durch das soziale Lernen unterdrückt wurde. Was lange gut funktioniert, kann insbesondere bei leistungsbereiten Menschen irgendwann in einer chronischen Erschöpfung enden und das eigene Leben sich fremd, ermüdend und sinnlos anfühlen. In diesem Artikel möchte ich aufzeigen, dass es in solchen Fällen nicht darum geht, ein „Defizit“ aufzudecken, sondern die Ressource in der Andersartigkeit zu erkennen. Neurodivergenz kann eine enorme Stärke sein – wenn wir lernen, unser eigenes „System“ zu verstehen und unser Selbst in einer passenden Umgebung zum Blühen zu bringen.
Was bedeutet neurodivergent?
Schon in der frühen Kindheit vergleichen wir uns mit anderen. Zugehörigkeit ist eines unserer Grundbedürfnisse und prägt viele unserer Gedanken, Bewertungen und Handlungen. Sich anzustrengen, um dazuzugehören, gilt als „normal“. Leistungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit werden gesellschaftlich belohnt.
Durch diese Mechanismen kann leicht eine versteckte Neurodivergenz entstehen. Sie bedeutet, dass jemand neurodivergente Persönlichkeitsmerkmale aufweist (z. B. Hochsensibilität, Autismus, ADHS, Hochbegabung etc.,vgl. Wikipedia), diese aber über Jahre – oft unbewusst – maskiert oder kompensiert hat, um zur neurotypischen Gesellschaft dazu zu gehören.
Vermutlich hat sich jede Person schon mal „anders als die Andern“ gefühlt. Es ist ganz natürlich, dass es Menschen gibt, die es lieber laut, leise, bunt, strukturiert oder chaotisch mögen. Der Begriff „Neurodiverstiät“ versucht dem Menschenbild der natürlichen Vielfalt gerecht zu werden. Wir haben also nicht nur unterschiedliche Körper, Gerüche und Vorlieben, sondern auch unsere Gehirne funktionieren unterschiedlich: Neurodivergenz ist also kein Fehler, sondern eine natürliche Vielfalt. In dieser Vielfalt steckt Potenzial das dann genutzt werden kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Wieso muss Neurodivergenz ein Thema sein?
Neurodivergente Menschen bereichern unsere Gesellschaft durch ihre einzigartigen Perspektiven und Fähigkeiten. Sie sind oft kreative Köpfe, spezialisierte Fachleute, sorgfältige Planer oder innovative Forscher, auf die wir angewiesen sind. Die Studie „Hoch(neuro)sensitive Mitarbeitende: Weicheier oder Wunderkinder?“ von Dr. Patrice Wyrsch bestätigt, dass zum Beispiel hochsensible Personen sowohl erhöhte Empathie und Kreativität aufweisen als auch anfälliger für Stress und Burnout sind. Wyrsch unterscheidet dabei zwischen „Vantage-Sensitivität“ (Sonnenseite) und „Vulnerable Sensitivität“ (Schattenseite). Personen mit Vantage-Sensitivität zeigen unter günstigen Bedingungen überdurchschnittliche Leistungen; auch jene mit einer vulnerablen Sensitivität erbringen in förderlichen Arbeitsumgebungen eine leicht höhere Aufgabenleistung als wenig sensitive Mitarbeitende. Diese Erkenntnisse verdeutlichen, dass neurodivergente Menschen durch passende Rahmenbedingungen ihr volles Potenzial entfalten können.
Menschen mit leichten neurodivergenten Persönlichkeitsmerkmalen erbringen oft über Jahre erhebliche Anpassungsleistungen, was zu Erschöpfung und weiteren psychischen Problemen führen kann. Sich nicht mehr „falsch“ zu fühlen, sondern eine Gruppe der Zugehörigkeit gefunden zu haben, kann eine stark entspannende Wirkung haben. Und auch unsere Gesellschaft profitiert von dieser Vielfalt, ähnlich wie ein Garten durch Biodiversität an Farbe, Leben und Resilienz gewinnt. Daher ist es essenziell, Offenheit für Diversität zu fördern und unterschiedliche Lern- und Arbeitsformen zu integrieren, um vielfältig, zugänglich, resilient und gesund zu bleiben. Und Menschen darin zu unterstützen, sich gesundheitsförderliche Lebensbedingungen zu erschaffen.

Anzeichen für eine versteckte Neurodivergenz
Viele neurodivergente Menschen erkennen ihre eigene Neurodivergenz erst spät – oft erst, wenn Überlastung, Burnout oder persönliche Krisen sie dazu zwingen, innezuhalten. Besonders Frauen, die über Jahre hinweg leistungsfähig, organisiert und pflichtbewusst gelebt haben, nehmen ihre Neurodivergenz lange nicht wahr, weil sie sich unbewusst perfekt an ihre Umwelt angepasst haben. Die eigentliche Herausforderung besteht also nicht darin, ob jemand „funktioniert“ oder nicht, sondern ob das gelebte Leben den eigenen Bedürfnissen entspricht und den Energiehaushalt langfristig stabil hält.
Deswegen ist wichtig, früh auf Zeichen von anhaltenden Stresssymptomen zu achten, um den eigenen Bedürfnissen mehr Raum zu schenken. Und genau hier beginnt der Weg: Es geht oft nicht darum, eine Diagnose zu haben, sondern darum, sich selbst besser kennenzulernen, alte Muster zu entlarven und bewusste Entscheidungen für ein erfüllendes Leben zu treffen. Die folgenden Anzeichen für eine möglicherweise kompensierte Neurodivergenz sind ein gesundes menschliches Verhalten und sollen dabei unterstützen, frühzeitig Entspannung und Erleichterung zu finden.
Maskierung (Masking):
- Kopiert soziale Verhaltensweisen anderer, um dazuzugehören.
- Unterdrückt Impulse, die als „unpassend“ wahrgenommen werden könnten.
Überanpassung:
- Starker Perfektionismus oder Anpassungszwang, um nicht aufzufallen.
- Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse zu erkennen und Grenzen zu setzen.
- Wirkt nach aussen kompetent, kämpft aber innerlich mit grossen Selbstzweifeln.
Sensorische und emotionale Überforderung:
- Hohe Sensibilität für Reize, Geräusche, Licht, Menschenmengen.
- Starke emotionale Wahrnehmung, aber auch Schwierigkeiten, Emotionen zu regulieren.
Chronische Erschöpfung:
- Ständige Anpassung und Anspannung kostet viel Energie, was zu „Nebel im Kopf“ (Fatigue), nächtliches Zittern oder Schweiss (Nervensystem-Dysregulation), Schlafproblemen oder Burnout führen kann.
- Ergänzend zu den Symptomen, kannst du folgende Selbsteinschätzung für dich ausfüllen: https://drdeenz.com/de/neurodivergenter-test/
Hast du dich selbst in diesen Punkten wiedergefunden? Viele neurodivergente Menschen haben ein Leben lang gelernt, sich anzupassen, um dazuzugehören. Das kann eine Mischung aus Erleichterung (endlich eine Erklärung!) und Trauer (wie viel habe ich unterdrückt?) auslösen.
Die Gründe für die Unterdrückung
Wenn jemand schon früh in der Kindheit lernt, die eigenen Emotionen zu kontrollieren, sich nicht von lauten Geräuschen oder grellem Licht irritieren zu lassen und Gespräche zu führen die als „normal gelten“, obwohl sie diese eigentlich erschöpfen, so wird diese Person zur Expertin darin, „normal“ zu wirken – mit freundlichem Lächeln und kontrollierter Körpersprache. Doch innerlich kostet jede Interaktion enorme Energie. Solche Anpassungsmuster führen oft dazu, dass Betroffene sich jahrelang unverstanden und erschöpft fühlen, ohne zu wissen, warum. Unterdrücken wir unsere Natur übermässig, so sind wir in einer Überanpassung und belasten unser Nervensystem auf Kosten unserer Gesundheit. Aus Sicht der Entwicklungspsychologie kann eine Überanpassung, insbesondere in der Kindheit, dazu führen, dass Kinder ihr Gefühl für Authentizität verlieren. Kinder, die ständig versuchen, den Erwartungen ihrer Umwelt gerecht zu werden, entwickeln möglicherweise Verhaltensmuster, die nicht ihrem wahren Selbst entsprechen. Dies kann langfristig zu sozialen Unsicherheiten, Perfektionismus und emotionaler Abhängigkeit führen.
Der Psychologe Carl Rogers betont in seiner personenzentrierten Theorie welche in der Psychotherapie weit verbreitet ist, dass jeder Mensch ein Selbstkonzept entwickelt – ein Bild von sich selbst, geformt durch Erfahrungen und die Wahrnehmung durch andere. Wenn dieses Selbstkonzept nicht mit dem eigenen Erleben und Fühlen übereinstimmt, entsteht eine Diskrepanz, die zu inneren Spannungen und Unzufriedenheit führt. Rogers nennt diesen Zustand Inkongruenz. Möchte ein Mensch psychisches Wohlbefinden erreichen, ist es essenziell, dass das Selbstkonzept mit dem eigenen Erleben im Einklang steht. Dies erfordert, die eigenen Bedürfnisse und Gefühle anzuerkennen und auszudrücken, und sich ein sinnerfülltes authentisches Leben zu gestalten. Und genau hier liegt das Geschenk der Neurodiversität und der Wiederentdeckung der eigenen Neurodivergenz: du darfst dich neu kennen lernen, und all die kleinen Dinge im Leben verändern, die sich nicht authentisch und nährend anfühlen.
Was hilft bei versteckter Neurodivergenz?
Wer ein Leben lang gelernt hat, sich anzupassen, braucht oft zuerst Zeit, um sich selbst wieder bewusst zu begegnen. Die biografische Aufarbeitung und das Bewusstsein, dass nichts an der eigenen Art zu fühlen oder zu denken falsch sei, ist ein entscheidender Schlüssel. Wer sich von alten und überholten Anpassungsmuster befreit, findet nicht nur mehr Energie, sondern auch ein tieferes Gefühl von Selbstwert und Authentizität:
- Sich selbst erkennen: Erlaube dir Raum um dich selbst besser kennen zu lernen.
- Sich selbst vertrauen: Vertraue deinen Wahrnehmungen, sie senden dir wichtige Signale
- Sich entlasten: Lerne Glaubenssätze und Überzeugungen loszulassen.
- Regulation finden: Gehe nährend und bewusst mit sensorischen Reizen um.
- Sichere Räumen suchen: Orte und Menschen finden, bei denen du DU sein kannst.
- Eigenen Weg entwickeln: Arbeitsweisen, Routinen und Lebensgestaltung so anpassen, dass sie deiner Veranlagung und Persönlichkeit entsprechen.
Doch wie kommt man zu einem Leben, das einem entspricht? Hier kommt uns der aktuelle Trend zur Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung sehr entgegen. Wir werden in spirituellen Büchern und in Social Media wohl täglich dazu eingeladen, das Leben als sinnhafte, lebendige und bunte Erfahrung zu sehen und sich ein Leben zu gestalten, das sich nährend und authentisch anfühlt. Eine Lebensvision zu entwickeln die anziehend ist, ist aus meiner Sicht der wichtigste Punkt, weil diese Arbeit bereits am Anfang des Weges als Ressource zur Verfügung steht.
Wer ein Leben lang gelernt hat, sich anzupassen, braucht oft zuerst Zeit, um sich selbst tiefer wahrzunehmen und ein Verständnis für die eigenen Erfahrungen, Gefühle und Bedürfnisse zu entwickeln. Dieser Weg ruft uns auf, achtsam zu sein mit den eigenen Wahrnehmungen und vielleicht auch verborgene Teile der Vergangenheit aufzuarbeiten um zu erkennen, wo wir zu sehr in eine Anpassung waren und wieso. Damit kann sich der innere Kompass neu ausrichten.
Mit Mut und Neugierde gelingt es, Bereiche im Leben zu erspüren, die erfüllend sind und bisher vielleicht völlig brach lagen. Eine Begleitung lohnt sich, wenn du dich blockiert oder verwirrt fühlst und aktuell gerade all die Veränderungen und Baustellen überfordern. Die Frage ist nicht, ob man sich anpassen muss, um in dieser Welt zu funktionieren – sondern wie man die Welt so gestaltet, dass sie einem entspricht.
Eine gesunde Welt ist bunt und vielfältig, das ist meine Überzeugung. Psychologische Begleitung kann neurodivergente Menschen sehr wirkungsvoll und nachhaltig dabei unterstützen, ihre einzigartigen Fähigkeiten zu erkennen, zu fördern und im Alltag zu integrieren. Die IKP-Methode basiert auf dem Prinzip der Salutogenese und geht nicht davon aus, dass mit einem Menschen ‚etwas nicht stimmt‘. Im Gegenteil – sie hilft jedem, die Kraft in seiner Einzigartigkeit zu erkennen und ein Leben zu gestalten, das ihn trägt. Diese ressourcenorientierte Sicht hilft, den eigenen Wahrnehmungen zu vertrauen und sie als Impulse für die Veränderung zu nutzen.

Eine gesunde Welt ist bunt und vielfältig – und es ist Zeit, dass du dir den Raum nimmst, dein authentisches Leben zu gestalten.
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