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Selbstwertschätzung, ein hochsensibles Thema oder Heilung durch Entscheidung

Ich möchte hier eine interdisziplinäre Erkenntnis teilen, die schon einer ganzen Reihe von Menschen dazu verholfen hat, die eigene Selbstwertschätzung nachhaltig zum Positiven zu verändern.

Teil 1 – Mein Verständnis der herkömmlichen Betrachtungsweise der Selbstwertschätzungsthematik.

Teil 2 – Vergleichbare Symptomatik in ganz anderem Kontext.

Teil 3 – Wie mir das Leben half, die verschiedenen Puzzlesteine neu zu arrangieren.

Teil 4 – Das Herz dieser Erkenntnis.

Teil 5 – Wie die Anwendung dieser Erkenntnis Menschen helfen kann, ihre Selbstwertschätzung radikal zu verbessern.

Teil 1

Viele Menschen, die sich mit dieser Thematik beschäftigen, sprechen auch von geringem oder verletztem Selbstwert. Mangelnde Selbstwertschätzung kann verschiedene Gesichter haben. Alle Formen von selbstverletzendem Verhalten wurzeln darin zumindest teilweise, ebenso wie das abwertende oder geringschätzige Reden über oder mit sich selbst – egal ob laut oder nur innerlich. Häufige Gefühle chronischer Minderwertigkeit oder sich bzw. die eigene Meinung gewohnheitsmäßig weniger wichtig zu nehmen als andere ist ebenso ein auffälliges Anzeichen. Und dann gibt es Menschen, die zwar durchaus meinen, sich selbst sehr zu mögen und zu schätzen, jedoch oft die eigenen Grenzen oder Bedürfnisse vernachlässigen, was ich ebenfalls als Symptom von geringer Selbstwertschätzung bewerte.

Viele von geringer Selbstwertschätzung Betroffene können in der Reflexion ihren eigenen Anteil daran sehen. Anderen geht es sehr gut mit sich selbst solange sie alleine sind oder zumindest nicht in sozialen Netzen eingebunden, doch sobald sie unter Menschen gehen oder mit ihnen mehr auf einer persönlichen Ebene zu tun haben, erleben sie sich als nicht ausreichend wertgeschätzt oder gar aktiv und schmerzhaft abgewertet. Ab und zu kann das immer mal passieren, doch wenn da ein Muster zu erkennen ist hat das wohl in den meisten Fällen mit der eigenen Selbstwertschätzung zu tun. Menschen denen es so geht können viel seltener den eigenen Anteil daran erkennen, sondern sie interpretieren das oft als Hinweis darauf, wie grausam, ungerecht oder schlecht andere oder die Welt eben sind. Oder anders gesagt: wer beobachten kann, dass z. B. die eigenen Gedanken die Abwertung vollziehen, tut sich leichter damit, Verantwortung dafür zu unternehmen, als Menschen welche die Worte oder Handlungen anderer als abwertend erleben. Da werden die eigenen Gefühle als gesunde oder unvermeidliche Reaktion auf Handlungen gesehen, denen eine abwertende Intention zugeschrieben wird – und damit wird die Verantwortung für das eigene Empfinden aufgegeben.  

Die Ursache für geringe Selbstwertschätzung wird in den mir bekannten psychologischen Schulen in sogenannten Entwicklungstraumen- oder Störungen verortet. Diese werden auch Vernachlässigungs- oder Bindungstraumen genannt. Ersteres weil sie nicht, wie andere posttraumatische Belastungsstörungen in einem Übergriff, in einem Zuviel wurzeln, sondern in chronischem Zuwenig. Anerkennung, Aufmerksamkeit, Wohlwollen, Liebe, Unterstützung etc. in der Kindheit scheinen notwendig für eine gesunde psychische Entwicklung. Fehlen sie über einen zu langen Zeitraum, so ist zwar jeder einzelne Tag erträglich, aber in Summe stören sie die Entwicklung, speziell die Entwicklung der Bindungsfähigkeit (deshalb „Bindungstraumen“). Damit ein Mensch mit (einem) anderen sicher verbunden sein kann, braucht es ein grundlegendes „ich bin ok – du bist ok“. Damit sich diese positive Grundhaltung entwickeln kann, benötigt es zur richtigen Zeit eine bestimmte Menge -niemand weiß wie viel- an Liebe, Anerkennung usw.

[Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass „normale“ Traumen, also Zuviel-Traumen die durch Verletzungen, Übergriffe oder Missbrauch entstanden sind, auch oft eine Zuwenig-Komponente haben, weil der mangelnde Schutz vor traumatischen Übergriffen oft nicht nur eine einmalige Verkettung unglücklicher Umstände war, sondern die Regel. Das verschmiert die Kategorien von Trauma in der Praxis.]

Mit herkömmlichen therapeutischen Methoden lässt sich bei Entwicklungstraumen meist nicht viel ändern. Man kann sich vielleicht mit Hilfe guter therapeutischer Begleitung selbst zu konditionieren, anders zu handeln und dadurch ein etwas leichteres leben zu haben. Aber die Empfindungen und Gefühlen sind sehr beharrlich. Was erforderlich erscheint, um die gestörte Bindungsfähigkeit wirklich zu heilen, ist sichere Bindung später im Leben, und die damit einhergehende Liebe, Wohlwollen, Anerkennung etc. Allerdings benötigt ein Erwachsener ungleich mehr bzw. länger davon, als in der Kindheit ausgereicht hätte, weil wir da so viel prägsamer waren, und ein Jahr viel länger gedauert hat. Gleichzeitig ist es für andere anstrengend, jemandem beharrlich Liebe, Anerkennung usw. zu zeigen, die oder der entweder mit der Grundhaltung „du bist ok – ich bin nicht ok“ sich zwar sehnlichst Liebe wünschen, aber diese schwer annehmen können. Stichwort Selbstwertschätzung: wer sich selbst -bewusst oder unbewusst- für minderwertig hält, weist oft auch die Wertschätzung anderer zurück. Oder noch schwieriger, wenn aus der Grundhaltung „ich bin ok – du bist nicht ok“ oft abweisendes, abwertendes oder passiv aggressives Verhalten als Reaktion auf die Zuwendung gezeigt werden. Von den Menschen, deren Bindungsfähigkeit bis zum „ich bin nicht ok – du bist nicht ok“ zusammengebrochen ist, ganz zu schweigen.

Ein einzelner Mensch -üblicherweise der sicher verbundene Partner oder die Partnerin in einer Liebesbeziehung- ist mit dem Auffüllen des alten Mangels fast immer überfordert. Mir wurde immer wieder gesagt, dass die Beziehung Patient-Therapeut die sichere und verlässliche Bindung sein sollte, die über die Jahre zur Heilung führen könnte. Wäre da nicht der kleine Makel, dass die Zuwendung und Anerkennung der Therapeutin nicht bedingungslos sind, sondern bezahlt werden müssen, könnte ich mich dieser Meinung vielleicht anschließen. In den meisten, wenn nicht in allen der -insgesamt wenigen- Fälle die mir bekannt sind, in denen eine solche Entwicklungsstörung durch ein jahrelanges Nachholen der erforderlichen Zuwendung geheilt wurde, hat sich die Aufgabe des Liebens gegen den (anfänglichen) Widerstand der geliebten Person auf eine Gemeinschaft verteilt. In den mir bekannten Fällen waren das kleine, also relativ familiäre christliche Glaubensgemeinschaften. Die kollektive Zuwendung und Versicherung, dass Gott als das Eltern- und Überwesen schlechthin den Menschen mit der Bindungsstörung und der geringen Selbstwertschätzung bedingungslos liebt hat irgendwann auch dazu geführt, dass die- oder derjenige selbst „zu Gott gefunden“ hat, d. h. in diesem Zusammenhang, dass sie sich tatsächlich von Gott (was-auch-immer sie darunter verstanden haben mögen) so geliebt fühlten, dass das -zusammen mit der Anerkennung durch die Gemeinschaft- irgendwann stärker wurde als die eigene Abwertung.

Um diesen Beitrag nicht gar zu sehr als theoretische Abhandlung erscheinen zu lassen, möchte ich hier erwähnen, dass ich selbst den Großteil meines Lebens schwankte zwischen dem klammernden „Du bist ok – ich bin nicht ok“, und bei höherem Stresslevel in das abweisende und pseudo-unabhängige „ich bin ok – du bist nicht ok“ wechselte. Vor rund 10 Jahren begann mein Heilungsweg mit extrem vielen und schmerzhaften Therapiesitzungen einerseits, und dank der Unterstützung durch eine christliche Glaubensgemeinschaft konnte ich mich ebenfalls zu dieser Zeit öffnen für die Liebe und Gnade Gottes, die ständig auf mich (und alle) nieder regnet – auch wenn wir das nicht immer so erleben mögen. (Meine persönliche Erfahrung und Definition des Begriffs „Glaube“ bzw. „Gläubigkeit“, die ich als pragmatisch und sehr sinnvoll bewerte, könnte für manche interessant sein, und wird vielleicht Thema eines zukünftigen Beitrags von mir.)

Teil 2

Emotionen werden von verschiedenen Traditionen, Disziplinen und Menschen sehr unterschiedlich gesehen und bewertet. Ein Kontext, den ich für mich oft als sehr hilfreich erlebe, sieht Emotionen als Feedback über zwischenmenschliche Abläufe, die wir andernfalls vielleicht übersehen würden. Dazu ein paar Beispiele:

Peinlichkeit z. B. zeigt uns, dass wir eben mehr von uns hergezeigt haben, als wir herzeigen wollten. In den meisten Beziehungen neigen wir dazu, unsere Schatten zu verbergen. Und wenn es -zumeist unabsichtlich- passiert, dass wir unsere Tollpatschigkeit, unsere Gier, unsere Bedürftigkeit oder andere Anteile, die wir gewohnheitsmäßig verleugnen und verbergen, erkennbar gemacht haben, dann ist uns das peinlich. Wenn uns also etwas peinlich ist, dann wissen wir dass wir jemandem gerade ein gutes Stück näher gekommen sind, und dafür unsere Komfortzone verlassen haben.

Sich exponiert und unsicher fühlen kommt oft unmittelbar hinter der Peinlichkeit daher. Sie zeigen uns, dass wir Bedürfnis haben zu wissen, was im anderen vorgeht. Wir sind z. B. ein Risiko eingegangen, indem wir einen Schritt in mehr gemeinsame Realität getan haben, und jetzt ist der Ball beim Gegenüber.

Erleichterung, im Extremfall verbunden mit einer gewissen Ausgelassenheit, zeigt uns dass das Gegenüber die neue, verringerte Distanz in der Beziehung akzeptiert, und wir jetzt ein neues Normal miteinander haben.

Traurigkeit ist ein bisschen trickreich. Eine schwere, depressive Traurigkeit ist ein Zeichen, dass wir in Wirklichkeit wütend sind, uns das aber nicht erlauben zu fühlen, geschweige denn auszudrücken.

Eine fließende, weiche Traurigkeit hingegen ist ein Indikator dafür, dass in einer bestimmten Beziehung die Distanz zugenommen hat, und sich unser Herz an die nun geringere Verbundenheit anpasst. Ein -kleiner oder größerer- Abschied sozusagen.

Nun, im sogenannten Authentic Relating, eine Praxis um tiefer und bedeutungsvoller in Kontakt mit sich selbst und anderen zu kommen, ist man der Meinung, dass auch Scham und Schuldgefühle angemessene Indikatoren für Vorgänge in Beziehungen sind: Scham taucht dann auf, wenn wir die -tatsächlichen oder vermeintlichen- Werte von Menschen verletzt haben, denen wir nahe stehen oder gerne näher stünden. Und Schuldgefühle sind ein Indikator, dass wir einen Wert von uns selbst verletzt haben. Das hatte ich in einem Authentic Relating Workshop gelernt und theoretisch verstanden, und wie ich das für mich verifizieren konnte, möchte ich im nächsten Teil beschreiben.

Teil 3

Im Spätsommer 2019 war ich mitten in den Vorbereitungen für die Vortragsreihe „Die Kunst des Lebens mit Hochsensibilität“. In dem Kurs geht es vor allem um Überstimulation und wie man sie abbauen bzw. vermeiden kann. Beim Thema stimulierende Emotionen gibt es auch einen Vortrag zum Selbstwert.

Eines Abends hatte ich Besuch von einer ganz lieben Freundin. Irgendwas lief schief, wir haben uns missverstanden, Dinge haben sich aufgeschaukelt, und dann kam der Punkt wo ich Dinge gesagt habe, die ich später als völlig unqualifiziert, überreagierend und verletzend bewertete. In der Situation wollte ich mir das nicht zugeben, fand meine Aussagen voll gerechtfertigt und verharrte in einer überheblichen, aggressiven und verstockten Haltung. Sie ging bald verletzt nach Hause, ich blieb selbstgerecht und ging schlafen.

Am nächsten Morgen in meiner täglichen stillen Zeit fiel mir das Ereignis vom Vorabend ein, und inzwischen war mein Widerstand verraucht und ich konnte die Niederträchtigkeit meiner Handlungen erkennen. Schuld- und Schamgefühle überfluteten mich. Beides war sehr angemessen, hatte ich doch einerseits meine eigenen Werte verletzt – denn so wie ich es am Vorabend tat möchte ich niemanden behandeln, und schon gar keine Freundin. Mir war auch klar, dass sie ebenfalls findet, dass es nicht ok ist, so mit jemanden zu sprechen – daher die Scham.

Weil ich mich gerade beruflich mit Emotionen beschäftigte, erwachte nach einigen Minuten des intensiv unangenehmen Gefühlslebens der kleine Professor in mir, und meine forschende Aufmerksamkeit richtete sich voll auf diese zutiefst unangenehmen Gefühle. Da spürte ich deutlich, wie wahr die im Authentic Relating gepflegte Interpretation sind. Die Scham richtet sich gegen das Gegenüber, und am besten kann ich mein inneres Erleben beschreiben als eine schmerzliche Wahrnehmung der Asynchronität zwischen mir und der Freundin, und eine Art Unterwürfigkeit, ein Wunsch die Verbindung aufrecht zu erhalten und parallel dazu eine Wahrnehmung der Abhängigkeit von ihrer Vergebung, und ein inneres -später dann auch äußeres, verbales- Bitten um diese Vergebung.

Das Schuldgefühl erlebte ich als rein internen Prozess, als ein schmerzhaftes, fast Übelkeit verursachendes Gefühl von Wertlosigkeit. Ich fühlte mich wie der sprichwörtlich letzte Dreck. Ich erlebte das als sehr schlüssig, denn wenn ich einen hohen Wert von mir -den des achtsamen und respektvollen Umgangs miteinander- verlasse, mich nicht in ihm aufhalte durch meine dazu im Kontrast stehende Handlung, dann bin ich im wahrsten inn des Wortes un-wert. Erst die entschiedene Abkehr von diesem Verhalten, und der feste Entschluss, so eine Entgleisung nicht mehr zuzulassen, ließ die Schuldgefühle allmählich abebben, und meine gewohnte Selbstwertempfindung kehrte zurück.

Später am Tag, als ich gerade mein Manuskript für den Vortrag über Selbstwertschätzung vorbereitete, überlief es mich plötzlich heiß und kalt: Was wäre, wenn all die Menschen, die sich ständig oder häufig oder immer in bestimmten Situationen unwert fühlten, einfach nur unerfüllbare innere Werte haben?

Teil 4

Wie ein Sturzbach brach die Erkenntnis des gesamten Mechanismus‘ über mich herein. Ich „sah“ klar vor meinem geistigen Auge, wie die in frühen Schlüsselphasen mangelnde Zuwendung und Anerkennung durch Bezugspersonen dazu führen kann (und oft aber nicht notwendigerweise tut), sich für unerfüllbare Grundwerte zu entscheiden, was dann ein Leben lang Schuldgefühle nach sich zog. Tief erschüttert weinte und lachte ich zugleich – ich fand es unendlich traurig, wie eine einzige, sehr früh getroffene und dann in Vergessenheit geratene aber immer noch gültige Entscheidung jahrzehntelange Belastungen für die Betroffenen und für Menschen in ihrem Umfeld nach sich zogen – und alles in ehrenwerter Absicht und Unwissenheit. Und ich lachte in Freude und Dankbarkeit, weil mir klar war, dass Werte nicht in Stein gemeißelt sind, sondern bewusst verändert werden können. Auch unbewusst getroffene frühkindliche Entscheidungen können bewusst gemacht und widerrufen oder neu getroffen werden. Mir war noch nicht im Detail klar wie das gehen kann, aber mir war klar dass es geht! 

Ich begann mich mit Werten zu beschäftigen, und fand Bestätigung: Werte sind keine Substantiva, sondern Handlungsaufträge. Werte sind also keine Dinge die man hat, sondern Dinge die man tut!

Wenn jemand zum Beispiel von sich sagt, „Gerechtigkeit ist für mich ein hoher Wert!“, dann ist ja die wirkliche bzw. wirksame Aussage in etwa „Mir ist es wichtig gerecht zu handeln“, „Ich stehe auf gegen Ungerechtigkeit“ oder „Ich setze mich ein für Gerechtigkeit“, weil sonst ist es ja kein Leitwert sondern ein Lippenbekenntnis. Werte sind somit selbstgewählte Aufgaben, und führen im Falle der Nichterfüllung zu Schuldgefühlen. Wenn die Person, die Gerechtigkeit als zentralen Wert gewählt hat, vielleicht ungerecht bevorzugt wird, und aus dem einen oder anderen Grund so tut als hätte sie es nicht bemerkt und von der Bevorzugung profitiert, dann wird sie sich so lange un-wert fühlen, entweder bis sie das korrigiert oder zumindest für sich den festen Entschluss fasst, es beim nächsten Mal besser zu machen.

Als nächstes begann ich mich damit auseinander zu setzen, was denn die Werte, also die natürlichen oder vom Leben vorgegebenen Aufgaben von Kleinkindern sein könnten. Auf den ersten Blick wirkt die Frage vielleicht unsinnig – ein Baby ist ja völlig unselbständig, es kann ja gar nichts tun. Ich bin ja selbst Vater mehrerer Kinder, und habe Erfahrung im Umgang und dem Sein mit kleinen Kindern. Und so tauchte ich tief ein in die Erinnerungen um zu erkennen, was denn wohl ihr Handlungsauftrag gewesen sein könnte, bzw. was „Handlung“ heißen kann für einen Menschen, der sich nicht mal vom Rücken auf den Bauch drehen kann. Ich erinnerte mich an die tatsächlichen Interaktionen mit den Kleinen, und daran wie viel ich empfangen habe durch das Wickeln, das Füttern, usw. mit meinen Kindern.

Ich behaupte hier mal, dass es die Aufgabe von Säuglingen ist, Säugling zu sein – also klein, hilflos, süß anzusehen (genau so wie Säuglinge eben aussehen – rosige Haut, großer Kopf, große Augen, etc.), süß duftend, unleidig wenn was nicht passt, und ein liebevolles, dankbares Strahlerchen wenn die Welt in Ordnung ist. Für die meisten Erwachsenen ist es ganz normal und natürlich, kleine und hilflose Kinder zu lieben, zu versorgen und zu beschützen – denn Menschen sind genetisch darauf programmiert, auf das Säuglingsmuster im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit Liebe und Fürsorge zu reagieren. Wenn sie nicht so reagieren ist es ihnen eben nicht möglich. Sie sind vielleicht gerade übermüdet, erschöpft oder in anderer Weise sehr bedürftig, zumeist einfach weil in der modernen Welt eben das Dorf fehlt, das es braucht um ein Kind groß zu ziehen. Vielleicht aber sind die Eltern auch persönlich traumatisiert oder psychisch gestört, was ja auch eine Form von sehr bedürftig darstellt.

Also nochmal, es ist die Aufgabe des Säuglings, Säugling zu ein und sich versorgen, beschützen und lieben zu lassen. Wir könnten auch sagen, zentrale Werte für ein Baby sind geliebt, versorgt und anerkannt zu werden. Und wenn das nicht geschieht, weil die Betreuungspersonen aus irgend einem Grund nicht dazu in der Lage sind, dann kann es leicht sein, dass das Kind es als seine Verantwortung sieht. „Ich soll mich versorgen, lieben und anerkennen lassen – ich werde nicht ausreichend versorgt, geliebt und anerkannt – ich versage!“ 

Auch das würde noch nicht notgedrungen zu langfristigen Problemen führen. Versagen ist schmerzhaft aber nicht schlimm, wenn wir es annehmen können. Annehmen heißt in diesem Fall: sich das Versagen einzugestehen, den Schmerz des sich wertlos Fühlens zuzulassen und auszuhalten und den festen Entschluss fassen, es bei nächster Gelegenheit besser zu machen. Bzw. es beim nächsten, natürlichen Wert oder Aufgabe besser zu machen. Denn das rein passive Säugling-Sein mit süß und hilflos sein als höchsten Wert wird irgendwann mal abgelöst. Dann ist die Hauptaufgabe des jungen Menschen vielleicht die Welt zu erkunden, oder später einen eigenen Willen zu entwickeln usw. usf. 

Jedoch wie die Praxis zeigt schaffen viele, die zu wenig Resonanz auf ihr Säugling-Sein gefunden haben, den Schritt nicht, diesen unerfüllten Wert mit einem anderen, ihrem Entwicklungsstand gemäßerem zu ersetzen. So als würden sie sagen „Nein, ich schaffe das noch!“ halten sie daran fest, als Säugling geliebt, anerkannt und versorgt zu werden. Sie sehen es weiterhin als ihre Aufgabe, dafür zu sorgen den erlebten Mangel zu füllen. Das wird spätestens dann ein ernsthaftes Problem, wenn der Säugling ein Kind, ein jugendlicher Mensch oder erwachsen ist. Die Phase des Säuglingsalters ist vorbei, das Fenster der Gelegenheit hat sich ein für alle mal geschlossen, dieser überholte Wert kann nie wieder erfüllt werden. Das ist hart, und doch ist der einzig sinnvolle Umgang damit: zu trauern bis die Tatsache akzeptiert werden kann, den Wert aufzugeben, und nach vorne zu schauen.

Teil 5

Seither bin ich daran, ein simples Protokoll, eine standardisierte Vorgehensweise zu entwickeln, um möglichst viele HSP -die ja häufig ein Problem mit der Selbstwertschätzung haben- dabei zu unterstützen, sich den überholten Wert fühlbar bewusst zu machen, und die bewusste Entscheidung zu treffen, diesen Wert aufzugeben. Einige therapeutisch geschulte Menschen, die auch gewohnt sind, mit sich selbst zu arbeiten, konnten nur mit den hier bisher präsentierten Informationen diesen entscheidenden Schritt alleine tun. Alle anderen musst ich bei diesem Prozess coachend begleiten, dann haben ca. 80% diese Entscheidung ebenfalls geschafft, fast die Hälfte davon in einer einzigen Sitzung. Bei diesem Coaching führe ich die Betroffenen durch die einzelnen Schritte des Prozesses (siehe unten), wobei ich bis jetzt immer noch am variieren der Formen bin, um ein Gedankenbild zu finden mit dem der spezifische Mensch was anfangen kann. Die Schritte selbst sind inzwischen schon immer die gleichen:

  • Eine Referenzsituation aus der jüngeren Vergangenheit finden, in der die mangelnde Selbstwertschätzung deutlich erlebt wurde
  • Den Mangel spüren
  • Das eigene Bedürfnis den Mangel zu stillen spüren
  • Die Empfindung mit einem Bild verknüpfen (zB ein leeres Gefäß)
  • Sich klar zu machen, dass das ein vergangener Mangel ist, der nicht mehr gefüllt werden kann (da kommt oft viel Trauer hoch)
  • Die Entscheidung treffen, die selbstgewählte Aufgabe des Füllens von dem Gefäß aufzugeben (ideal: das Gefäß zerstören, dann kann man sich’s nicht mehr anders überlegen)
  • Die emotionalen Reaktionen auf diesen Schritt verebben lassen
  • Die Referenzsituation wieder aufrufen und schauen, was sich verändert hat. Mit den jetzt noch vorhandenen, belastenden Gefühlen den Prozess nochmal machen, bis die Referenzsituation keine Spannung mehr enthält

Das war’s. Klingt simpel, ist simpel. Und es nicht unbedingt leicht durchzuführen. Und die Chancen sind hoch, dass das Ergebnis eine gefühlte Wende im Leben ist. Für Rückmeldungen bin ich dankbar – bitte an g.parlow@gmx.at 

Über den/die Autor*in

Georg Parlow
Georg Parlow

Georg Parlow, Jahrgang 1956, ist selbst hochsensibel, Vater von vier Kindern, ehemaliger Seminarleiter und Coach. Seit dem Jahr 2000 setzt er sich intensiv mit der Thematik auseinander. Er hält Vorträge und verfasste Artikel zum Thema für zahlreiche Zeitschriften im deutschsprachigen Raum. Seit 2001 lebt und arbeitet er in Wien.

Zum Buch: https://www.festland-verlag.com/zart-besaitet.7082.html

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