Unterstützung der psychischen Gesundheit von gewaltsam vertriebenen Kindern

Für eine detailliertere Betrachtung des Textes sowie, Figuren, Methoden und Diskussion siehe: Pluess M. et al., Nat Rev Psychol_ 2025 / https://www.nature.com/articles/s44159-025-00447-9
- Hintergrund
Fast 50 Millionen Kinder unter 18 Jahren werden derzeit aufgrund von bewaffneten Konflikten und anderen Notsituationen gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben. Diese Kinder und Jugendlichen sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, eine schlechte psychische Gesundheit zu entwickeln.
In der original Literaturübersicht wird das Wissen über die Prävalenz psychischer Störungen im Kontext von Vertreibung zusammengefasst, die individuellen Unterschiede in der Reaktion auf Krieg und Vertreibung erörtert und die bestehenden Ansätze für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung untersucht.
In dieser Zusammenfassung wird die Relevanz für Umweltsensitivität im Kontext von Vertreibungen erläutert und die Erkenntnisse auch für nicht umweltsensitive Menschen angesprochen. - Methode
Die Autoren wenden dabei eine sozio-ökologische Systemperspektive an. Psychische Gesundheit und Wohlbefinden werden dabei als Teil von psychosozialen Faktoren (wie Erziehung, Erfahrung von struktureller Gewalt, Diskriminierung und Armut) und bioökologischen Faktoren (wie die physische und gebaute Umwelt) auf verschachtelten Systemebenen betrachtet, die durch vermittelnde Pfade miteinander verbunden sind.
Systemebenen:
– Individuum (Persönlichkeit und genetische Faktoren), s
– Mikrosysteme (z. B. die Familie),
– Exosysteme (z. B. die Gemeinschaft),
– Makrosysteme höherer Ordnung (z. B. der sozio-politische Kontext, kulturelle Normen)
– Chronosystem (Veränderungen im Laufe des Lebens).
Dieses Modell hilft den Autoren zu berücksichtigen, wie Faktoren auf individueller, familiärer und gemeinschaftlicher Ebene miteinander verknüpft sind, um die psychische Gesundheit zu beeinflussen. Ebenso kann analysiert werden, wie der Nutzen von Interventionen in nachhaltige und koordinierte multisektorale Versorgungssysteme integriert werden kann, die eine kulturell und kontextuell relevante Programmumsetzung fördern. - Ergebnisse
Die Literaturrecherche zeigt wie erwartet, dass die psychische Gesundheit von vertriebenen Kindern erheblich belastet ist. So wird geschätzt, dass mehr als 50 % der gewaltsam vertriebenen Kinder in sehr ungünstigen Kontexten unter psychischen Gesundheitsproblemen leiden, verglichen mit der globalen Schätzung für nicht vertriebene Kinder von etwa 13 %.
Es konnte ein breites Spektrum von Risikofaktoren für psychische Störungen beschrieben werden.
i) Individuelle Risikofaktoren
– Kriegseinwirkung in den letzten 1-5 Monaten
– Älteres Alter bei der Exposition gegenüber Kriegs-/Gewaltereignissen
– Vermeidende Bewältigungsstrategien,
– Hohe Cortisolwerte
– Hohe Umweltempfindlichkeit
– Geringerer allgemeiner Gesundheitszustand
– Genetische Veranlagung
ii) Mikrosystem-Risikofaktoren
– Trennung von und Verlust von Bezugspersonen (insbesondere Vätern)
– Schlechte psychische Gesundheit der Betreuungsperson (PTSD, Depression, Angstzustände)
– Schlechter allgemeiner Gesundheitszustand
– Konflikte zwischen Kind und Betreuungsperson
– Misshandlung durch die Eltern
– Hohe mütterliche psychologische Kontrolle
– Geringe mütterliche Akzeptanz
– Erfahrungen mit Mobbing
iii) Exosystem-Risikofaktoren
– Soziale Isolation und Einsamkeit
– Hohe menschliche Unsicherheit
– Unterbrechung von Schule oder Arbeit
iv) Makrosystem-Risikofaktoren
– Derzeit keine Daten verfügbar
Folgende Resilienzfaktoren werden beschrieben, um psychischen Störungen entgegenzuwirken.
i) Individuelle Resilienzfaktoren
– Geschlecht: Mädchen sind widerstandsfähiger bei externalisierenden Problemen
– Jungen sind widerstandsfähiger für Depressionen und PTBS
– Jüngeres Alter bei der Exposition
– Ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale wie Selbstwertgefühl
– Optimismus
– Selbstbeherrschung und Selbstwirksamkeit
– Hohe kognitive Fähigkeiten
– Interner Kontrollmechanismus (locus of control)
– Religiöse Überzeugungen und Praktiken (Sinn und Hoffnung)
– Aufrechterhaltung der kulturellen Identität
– Akkulturation (einschließlich Spracherwerb)
– Anpassungsfähige Bewältigungsstrategien (kognitive Umstrukturierung)
– Altruismus und prosoziales Verhalten
– Zukunftsorientierung und Bestrebungen
ii) Faktoren für die Widerstandsfähigkeit des Mikrosystems
– Erfüllung grundlegender und finanzieller Bedürfnisse
– Gute psychische Gesundheit der Betreuungsperson
– Geringe Eltern-Kind-Konflikte
– Starke Bindung zur Hauptbezugsperson (mütterliche Akzeptanz)
– Unterstützende Elternschaft
– Einheitliche Familie
– Hohe elterliche Bildung und Zugang zur Schule
– Schulische Verbundenheit und Zugehörigkeitsgefühl
– Sich in der Schule sicher fühlen
iii) Exosystem-Resilienzfaktoren
– Soziale Unterstützung durch Gemeinschaft, Lehrer und Gleichaltrige
– Akzeptanz durch die Gemeinschaft
iv) Makrosystem-Resilienzfaktoren
– Sozioökonomische Bedingungen
– Verfügbarkeit und Nutzung von Gesundheitsdiensten
– Sozial integrative Gesellschaft
– Beibehaltung kultureller Praktiken
– Verfügbarkeit eines Rechtsstatus für Flüchtlinge
– Bildungs- und Beschäftigungschancen
– Respekt für Vielfalt und Gleichheit
Individuelle Unterschiede in den Reaktionen auf bewaffnete Konflikte, Krisen oder Vertreibung spiegeln die Komplexität und Vielschichtigkeit von Risiko- und Schutzfaktoren wider. Menschen reagieren sehr unterschiedlich in diesen speziellen Krisensituationen. Ihre Reaktion hängt davon ab, wie stark sie davon betroffen sind und welche Risiken oder Schutzfaktoren in ihrem Leben eine Rolle spielen. Diese Faktoren können die psychische Gesundheit entweder verschlechtern oder stärken.
Das Wissen über Resilienz Entstehung hat sich in den letzten Jahren erweitert. Laut modernen Ansätzen in der Psychologie wird Resilienz als multisystemisch verstanden. Sie entsteht in einem langen, sich ständig verändernden Prozess und passt sich an die persönliche Lebenssituation an. Zurzeit weiss man jedoch noch nicht im Detail, wie genau die verschiedenen Resilienzfaktoren Kindern helfen, die durch Gewalt und Vertreibung stark belastet sind. Hier braucht es weiterhin noch mehr gezielte Forschung.
Einen kleinen Ausblick geben hier zwei Studien. Diese haben gezeigt, dass sich spezifische Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit und der psychosozialen Unterstützung (s.o.) positiv auf die psychische Gesundheit von gewaltsam vertriebenen Kindern auswirken. So können zum Beispiel Ängste, Depressionen und traumatischen Stress effektiv verringert werden und helfen den Kindern, im Alltag besser zurechtzukommen. Zusätzlich haben Programme, die sich auf Familieninterventionen konzentriert haben, gute Ergebnisse gezeigt. Sie können sowohl den Kindern als auch den betreuenden Erwachsenen guttun und ihre die seelische Gesundheit der ganzen Familie stärken.
Bedeutung für hohe Umweltsensitivität
Interessanterweise wurde beschrieben, dass sich bei einigen gewaltsam vertriebenen Kindern eine hohe Umweltsensitivität entwickelt, wahrscheinlich als Überlebensstrategie (siehe Webinar Zusammenfassung – Netzwerk HSP Website – https://www.netzwerk-hsp.ch/webinar-entwicklung-und-psychische-gesundheit-in-der-sensitivitaet/).
Gleichzeitig wird eine hohe Umweltsensibilität auch als potenzieller Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen in dieser Bevölkerungsgruppe beschrieben (siehe individuelle Risikofaktoren). Folglich erklärt dies, warum umweltsensitive Kinder aus Krisengebieten anfälliger für mentale Erkrankungen sind. Sie weisen, wie auch hochsensitive Kinder aus nicht-Krisengebieten, weniger Resilienz auf. Obwohl umweltsensiblere Kinder anfälliger für die negativen Auswirkungen von Krieg und Vertreibung sind, profitieren sie aber auch stärker von positiven und unterstützenden Erfahrungen (Vantage Sensitivität), einschließlich psychologischer Interventionen (Fig.1). Ein unterstützendes Beispiel hierzu liefert eine Studie aus England die zeigt, dass nur hochsensible Mädchen eine Verringerung depressiver Symptome, nach einem schulbasierten Resilienz Förderungsprogramm für ein benachteiligtes Umfeld, zeigten. Solche Ergebnisse implizieren, dass hochsensible Kinder wahrscheinlich besser auf Behandlungsmaßnahmen ansprechen.
Diese Erkenntnis unterstreicht die Notwendigkeit, eine entwickelte Umweltsensitivität in vertriebenen Kindern und Jugendlichen aus Kriegsgebieten zu identifizieren und gezielt sinnvolle psychologische Interventionen und Familienprogramme zu etablieren. Ebenso weisen diese Erkenntnisse darauf hin, dass die Gruppe der weniger umweltsensitiven Kinder schlechter von besagten Interventionen profitieren können. Hier gilt es alternative, geeignete Wege zu finden, um auch Kinder zu unterstützen, die weniger sensibel auf Umwelteinflüsse reagieren (siehe Fig. 1)
Wirksamkeit der Interventionen
Wenn man untersuchen will, ob eine psychologische Hilfe effektiv ist, geht es nicht nur darum zu fragen: „Funktioniert das?“, sondern auch: „Wie funktioniert es, für wen genau und unter welchen Bedingungen?“. Solche Fragestellungen helfen dabei herauszufinden, welche einzelnen Bestandteile einer Hilfe besonders wichtig sind, also was genau die positiven Veränderungen bewirkt.
Eine systematische Überprüfung hat zum Beispiel verschiedene Bestandteile von psychologischen Programmen untersucht, die kriegsbetroffenen Kindern und Jugendlichen in Ländern mit geringem Einkommen helfen und positive Auswirkungen auf ihre Psyche haben. Wirksame Elemente dieser Programme waren zum Beispiel:
– Psychoedukation (also kindgerechte Infos über Gefühle und Stress)
– kognitive Exposition (überbelastende Erlebnisse besprechen)
– Entspannungsübungen (Meditation, Atmungsübungen)
– kreativer Ausdruck (wie Kunst oder Tanz)
Wichtig war auch, dass die Angebote gut erreichbar waren, zum Beispiel, indem sie direkt in den Gemeinden stattfanden. Außerdem halfen Interventionen, mit denen die Fachkräfte eine gute Beziehung zu den Jugendlichen aufbauten, die Jugendlichen zwischen den Sitzungen zu Hause üben konnten und die Fortschritte langfristig erhalten blieben.
Ähnliche Analysen gibt es auch für Programme, die sich an Eltern und Familien richten. Dabei zeigten sich folgende Bausteine als besonders hilfreich:
– Infos über psychische Gesundheit (Psychoedukation)
– Techniken zum Stressabbau
– eine positive Art, Kinder zu erziehen
– gute Kommunikationsfähigkeiten und
– der Kontakt zu unterstützenden Netzwerken
Versorgungslücke in der psychischen Gesundheitsversorgung
Trotz dieser positiven Interventionsmöglichkeiten gibt es eine große Versorgungslücke in der psychischen Gesundheitsversorgung für gewaltsam vertriebene Kinder. Die „Lücke in der psychischen Gesundheitsversorgung“ ist definiert als die Anzahl der Personen, die eine psychische Gesundheitsversorgung benötigen, diese aber nicht erhalten. Schätzungen für Depressionen deuten auf eine Lücke von bis zu 67 % in Ländern mit hohem Einkommen (HIC) und mehr als 90 % in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen (LMIC) hin. Zu den vorgeschlagenen Ursachen für diese Lücke gehören:
– Mangel an Ressourcen
– Ineffiziente Nutzung der Ressourcen
– Begrenzter und ungleicher Zugang zu Interventionen
– Begrenztes Hilfesuchverhalten psychisch kranker Menschen
– Geringe Nachfrage - Fazit
Die Zahl der gewaltsam vertriebenen Kinder steigt, doch der Zugang zu wichtigen psychosozialen Diensten ist nach wie vor äußerst unzureichend. In dieser Übersicht wird aufgezeigt, welche Art von Interventionen hilfreich sein könnten, um psychische Störungen bei gewaltsam vertriebenen Kindern zu bekämpfen, und wie lokale Organisationen vorgehen können, um mit Interventionen erfolgreich zu sein. Eine stärkere, wissenschaftlich fundierte Vision für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung wäre dringend erforderlich. Eine Vision, die der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der humanitären Hilfe Vorrang einräumt, um die Ressourcen für Kinder, Familien und Gemeinschaften zu stärken und Wege zu einer positiven psychischen Gesundheit und zum Wohlbefinden zu fördern.
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