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Verständnis wecken zwischen HSP und Neurotypischen

Ein neues Buch für Kinder erzählt aus der Innensicht des hochsensiblen Jungen Ennio. Das kann für neurotypische Kinder und Erwachsene aufzeigen und im besten Fall nachspürbar machen, wie groß die Unterschiede in Wahrnehmung und Empfindung sind. Die Geschichte in Ennio Empfindlich handelt vom Neuanfang nach einem Umzug, der für die meisten Kinder schwierig ist – Ennio muss dabei zusätzliche Schwierigkeiten meistern.

Warum heult der schon wieder? Was ist denn jetzt los? Tu doch nicht so empfindlich! Solche Sätze bekommen viele hochsensible Kinder öfter als andere zu hören. Auch Ennio kennt diese Sätze, vor allem von seinem Papa. Und wenn seine Mama sich dann für Ennio einsetzt, führt das zu Streit, und das ist noch schlimmer für den Jungen. Ennio zieht sich möglichst schon zurück, bevor es so weit ist. Und auch diese Reaktion löst nicht viel Verständnis aus. Dabei geht es im Grunde doch genau darum: Verständnis füreinander. In beide Richtungen ist dieses Verstehen zwischen hochsensiblen und neurotypischen Menschen nicht per se gegeben, da beide Seiten unterschiedlich empfinden. Wenn Geräusche die einen stören, für die anderen aber kaum hörbar sind. Wenn bei den einen vergangene negative Erlebnisse Ängste auslösen vor Aufgaben, die die anderen ohne die geringste Anstrengung meistern.

Wie kann dieses Verständnis aufgebaut werden?

Die Autorin Noëmi Sacher hat dafür ein Buch geschrieben. Eine Geschichte, die aus der Sicht des achtjährigen Ennio erzählt wird. Konsequent lesen wir nur, was er denkt und fühlt. Über Elterngespräche, denen er ausweicht, oder Beweggründe von anderen Figuren erfahren wir nichts. Aber wir können mit Ennio in seine Erlebnisse eintauchen – und diese Einladung gilt eben speziell für neurotypische Menschen, für Kinder und Erwachsene, die diese besondere Empfindlichkeit nicht haben, nicht kennen. Damit sie miterleben, wie lange Ennio versucht, ein lieber Junge zu sein, obwohl ihn viele Dinge stören, ablenken und beeinträchtigen. Denn für ihn ist es besonders schlimm, seinen Eltern Kummer zu machen. Er weiß ja, dass die Eltern dann leiden, und spürt dieses Leiden selbst und im Voraus. Also gilt es das zu verhindern. Bis er es nicht mehr aushält und es aus ihm herausplatzt. Bis der eine Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt, wie es die HSP-Beraterin Bettina Gut im Nachwort zur Geschichte schreibt – für Erwachsene, die mehr darüber wissen möchten oder die erkennen, dass ihr eigenes Kind eben auch hochsensibel sein könnte.

Autorin und Verlag haben mit dem letztjährigen Buch Kaya Kompliziert sehr gute Erfahrungen gemacht. Darin geht es um Zwangsgedanken und deren Akzeptanz als ersten Schritt zur Überwindung. Diese erste Geschichte ist aus den Schwierigkeiten heraus entstanden, die der Autorin als Mutter eines betroffenen Kindes erwachsen sind: Das Kind lachte herzlich über das komische Verhalten von Kaya und konnte sich nicht erklären, warum ein Kind sich so verhalten sollte. Dass es sich selbst ähnlich zwanghaft wie Kaya verhielt, war ihm schlicht nicht bewusst. Nun aber hatten Mutter und Kind eine Gesprächsbasis und die Mutter konnte fragen: „Sag du es mir! Was erlebst du denn dabei, wenn du zehn Minuten lang die Hände wäschst?“

Für Ennio Empfindlich konnte Noëmi Sacher stärker noch aus ihrem eigenen Erleben, ihrer eigenen Kindheit schöpfen. Sie galt als empfindlich, verträumt, schusselig – und verstand nicht, warum die anderen das über sie dachten. Sich dagegen zu wehren, löste aber höchstens mitleidiges Lächeln aus. Heute schöpft sie nicht nur Kraft aus ihrer Sensibilität, sondern schafft auch Verständnis für Betroffene. Und so schickt sie Ennio auf eine Reise durch die Empfindungen, durch Ärger und Ängste, lässt ihn aber auch einer Mentorin begegnen: Von der alten Imkerin, die sich so sonderbar anzieht und die von den Nachbarskindern „Hexe“ genannt wird, fühlt er sich wie magisch angezogen. Von außen gesehen gerät er in ihre Fänge, er selbst begibt sich aber vertrauensvoll in eine neue Freundschaft. Und er lernt von ihr, seine Angst vor kleinen und großen Tieren zu überwinden, indem er erkennt, wie ähnlich sie ihm sind: ausgestattet mit ausgeprägten Sinnen.

Kalila, das neue Nachbarsmädchen, das sich mit Ennio befreunden will, wartet lange vor dem Bienenhäuschen der „Hexe“ auf Ennio – denn einen so mutigen Jungen, der sich da reintraut, hat sie noch nie gesehen. Das hilft Ennio auf zweifache Weise: Er erkennt, wie unterschiedlich Handlungen von außen und innen beurteilt werden (aus seiner Sicht hat er gar nichts Mutiges geleistet) und schöpft daraus Mut, sich Kalila anzunähern. Und kann sich so in dem Moment für sie einsetzen, als sie auf Hilfe angewiesen ist. Freundschaft und Vertrauen wachsen damit so weit, dass er sie auch an seinem Rückzugsort, dem neuen Baumhaus, duldet und ihr sogar sagen kann, dass ihm die rosa Kissen nicht gefallen, die sie dorthin mitgebracht hat.

Angaben zum Buch:

Noëmi Sacher: Ennio Empfindlich. Illustriert von Tanja Stephani. kwasi verlag 2022, 96 S., € 19 | Fr. 22, erschienen in der Reihe „insBesondere Kinder“

Über den/die Autor*in

Bruno Blume

Autor zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, Verleger (www.kwasi-verlag.ch) und zertifizierter neurosystemischer Aufsteller-Coach. Selber Autist sensibilisiert und berät er Menschen im Umfeld von Autist*innen.

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