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Chancen und Herausforderungen für Hochsensible in der Unternehmenswelt

3 «Experten» tauschen sich aus

Mitte Februar trafen sich 3 HSP in einem Kaffee in Bern, um sich über ihre Erfahrungen im Berufsleben auszutauschen. J.J. arbeitet in einem Führungsteam in einem internationalen Grossunternehmen. M.M. ist Projektleiter in einem Schweizer KMU und D.D. ist Unternehmerin im Bereich Coaching und nachhaltige Organisationsentwicklung. Motiviert war das Treffen durch die Frage, welche Herausforderungen und Chancen Hochsensibilität im Berufsalltag mit sich bringt. Die Erkenntnisse sind spannend. Denn so unterschiedlich die Positionen der Diskussionsteilnehmer sind, so ähnlich sind Ihre Herausforderungen und der Nutzen, den sie in der Wirtschaft stiften.

Würde ich meine Hochsensibilität oder Neurosensitivität in meinem beruflichen Umfeld erklären?

J.J.: Einer sehr vertrauenswürdigen Person, die ähnlich empfindet und denkt, würde ich mich unter verschiedenen Bedingungen öffnen. Voraussetzungen sind, dass ich mich dabei sicher und wohlfühle,  der/die Gesprächspartner/in die Begabungen wertschätzt und mir in der persönlichen Entwicklung keine Nachteile entstehen würden.

M.M.: Öffentlich mache ich meine Neurosensitivität nicht, weil ich vor dem Missverständnis „hochsensitiv = sensibel = überempfindlich“ Angst habe. Zudem würden mir wohl viele KollegInnen die Hochsensibilität gar nicht abnehmen, denn ich kann in der Berufswelt recht „unsensibel“ auftreten. Im persönlichen Gespräch habe ich mich aber auch schon „geoutet“, dass gewisse Dinge bei mir empfindlicher eingestellt sind – so etwa dass ich an Apéros immer nur am Weinglas nippe und mich nicht so ins Gewühl stürze…

D.D.: Gegenüber Coaching-Klienten neige ich dazu, meine Hochsensibilität zu erklären. Die zwischenmenschliche Ebene und das Vertrauen stehen hier im Vordergrund. In 90% der Fälle ist mein Gegenüber ohnehin hochsensibel, sehr feinfühlig oder sehr empathisch. In der Unternehmensberatung sieht das anders aus. Hier steht im Fokus der Zusammenarbeit die Sache oder der meist komplexe, «technische» Inhalt. Mit einer Erklärung würde ich eine Irritation schaffen und lasse sie daher weg.

Wie würde ich meine Hochsensibilität oder Neurosensitivität erklären?

J.J.: Es gibt eine Gruppe von Menschen, die anders empfinden und denken als die Mehrheit der Menschen. Diese haben ganz tolle Gaben und Talente  – wurden von der Natur reich beschenkt. Sie können innerhalb kurzer Zeit komplexe Konzepte erstellen, die vollumfänglich durchdacht sind. Sie finden Lösungen für Situationen, wo andere schon aufgegeben haben und sagen «es geht nicht». Teilweise bin ich selbst erschrocken in welcher Geschwindigkeit Lösungen «produziert» werden können, wenn die Person zentriert ist.

M.M.: je mehr ich über HSP lese, desto mehr merke ich, wie individuell die Neurosensitivität erlebt wird. Gewisse HSP-Züge merkt man mir wohl schon an – ich bin für einen Mann innerlich und äusserlich fein gebaut. Und von vielen werde ich als wunderlich beschrieben.  Wie dies mit  Wahrnehmung/Bewusstsein zu tun hat, dem komme ich immer mehr auf die Spur. Die Erkenntnis, neurosensitiv zu sein hat viel Druck von mir genommen, weil ich vorher sehr vieles psychologisch erklärt habe, wofür es physiologische Erklärungen gibt.

Beim Reiz-Management muss ich ziemlich „selbst-regulieren“, eine Mischung aus Reiz-Reduktion und Reiz-Umgang – das in-Balance-Halten ist bei mir zur lebenslangen Aufgabe geworden, damit ich z.B. ein Minimum an Schlaf habe und leistungsfähig bleibe.

Was bedeutet das für meinen beruflichen Alltag?

D.D.: In den seltensten Fällen spreche ich von Hochsensibilität eher von sehr grosser Feinfühligkeit, die es mir ermöglicht, ein Problem an seiner Wurzel bzw. seinem Ursprung wahrzunehmen.

Was ist aus meiner Sicht ein Vorteil, den ich als HSP in ein Unternehmen einbringen kann?

J.J.: Die komplexe und vernetzte Denkweise sehe ich beispielsweise als einen Mehrwert für Unternehmen. Wenn andere schon aufgegeben haben, finde ich noch verschiedene Lösungsansätze für ein «vermeintliches Problem». Ich benötige keine komplexe Problemschilderung – schnelle Erfassung des Problems (analytische Gabe) denke in Lösungen. Ein weiterer Vorteil ist die Fähigkeit Prozesse bis zu Ende zu denken anstelle in kleinen Schritten. Weiter in der Lage zu sein, die Meta Ebene einzunehmen um in grossen Zusammenhängen denken zu können und auch die Gabe zu haben in Detail verliebt sein zu können, wenn es gefragt und für die Lösung sinnvoll ist.

M.M.: Ich glaube es war Roger Ziegler der sagte, dass ein intelligenter Chef am meisten über seine Firma herausfinde, wenn er am Freitagnachmittag eine HSP frage. Ich erlebe es genau so: dass ich gewisse Antennen habe, primär für Menschliches, aber auch ob ein Vorschlag, eine Idee o.ä.  umsetzbar ist.

Erhöhtes Bewusstsein, erhöhte Wahrnehmung merke ich aber vorallem ausserberuflich: in der Reflexion über das Leben und mein Sein; im Kulturellen und Transzendenten. Vielleicht wirkt sich dies dann aber (indirekt) auch positiv auf meine Arbeit aus.

D.D.: Meine grosse Begabung ist es komplexe Zusammenhänge sehr einfach und schnell zu erfassen, zu durchschauen und Problemlösungen anzubieten. Für meine Kunden bedeutet das, dass sie sich rasch entwickeln können und Probleme nicht an der falschen Stelle suchen. Das erspart Zeit, Geld und bremsende Organisationsdynamik.

Auf der Zwischenmenschlichen Ebene würde ich sagen, dass sich das Finden von Problemlösungen sehr vereinfacht, da ich sehr schnell mitbekomme, was mit meinem Gegenüber wirklich los ist. In der Führungsrolle ist das genial.

Die Frage ist einfach, ob die Ebene der Beziehung und die Kultur der Organisation einen tieferen und ehrlichen Dialog zulassen. In meinen Zeiten als Angestellte vor 20 Jahren habe ich das nicht erlebt und kam mir immer «voll daneben» und nicht verstanden vor. Im Nachhinein hat sich zumeist nicht nur meine Wahrnehmung bestätigt. Mir wurde auch von höchsten Stellen zu meinen Erkenntnissen und Vorschlägen gratuliert und ich wurde auf der Karriereleiter nach oben getragen.  Da ich damals in einem Drehpunkt von Politik, Verwaltung und Wirtschaft tätig war, war das Interesse der einzelnen Gruppen das «eigene Königreich» zu retten immer viel stärker, als die nachhaltige Entwicklung voran zu treiben, um die es eigentlich ging. Das ständige Abbremsen von Entwicklungen und die Dissonanz der Ziele meiner Vorgesetzten haben mich total irritiert. Das ist wohl ein Grund für meine Selbständigkeit. Hier kann ich meine Stärken leben und werde nicht durch eine träge organisationale Kulturhülle und konkurrierende Einzelinteressen gebremst.

Was bedeutet das für meinen beruflichen Alltag?

J.J.: Ich benötige eine Aufgabe, die meinen Gaben entspricht, abwechslungsreich und vielseitig ist. Dazu gehört, dass ich Freiräume habe, sowohl in einem Team arbeiten und bei Bedarf auch allein an einem Thema arbeiten kann. Dies ist hilfreich, um Prozesse/komplexe Themen vorgängig durchdenken zu können und dafür die nötige Ruhe zu haben. Gerne bespreche ich die Erkenntnisse dann in einem Team, um gemeinsam das Ziel für eine Lösung zu diskutieren und das weitere Vorgehen zu bestimmen.

M.M.: Ich habe immer in Stabsstellen/Unterstützungsprozessen gearbeitet – und in KMU’s, wo mein Sinn für das Ganze, für Querschnittaufgaben gefragt sind. Sehr „vitale“ Aufgaben, wo Durchsetzungsvermögen gefragt ist, habe ich eher gemieden – der übriggebliebene Bereich Adminstration/Personal/Finanzen ist zwar weniger sexy, aber so habe ich es in den vergangenen fast 40 Berufsjahren meistens geschafft, mich im Gleichgewicht zu halten. Und seit einigen Jahren arbeite ich 80% auf fünf Arbeitstage verteilt, so habe ich Zeit und Energie für meine mir wichtigen Dinge. Es ist wohl die grosse HSP-Herausforderung, mit einem „wachen Geist“ ausgestattet zu sein: mit dem eher schmalen Band zwischen Unter- und Überforderung umgehen können – den Beruf also nicht zu stark gewichten und sich zu fest verausgaben – aber auch nicht zu wenig gefordert werden, sich zu sehr zu „beruhigen“ – denn dort lauert das „Austrocknen“.

D.D.: Ich habe mir einem beruflichen Alltag so eingerichtet, dass ich meine Hochsensibilität beruflich zum Einsatz bringen kann und dass geniesse ich sehr. Zudem habe ich meine eigenen Büro- und Praxisräume und kann mich so vor den emotionalen Felder möglicher Kollegen zurückziehen.

Meine Selbständigkeit hat aber auch eine grosse Schattenseite: Da ich selber verantwortlich bin, dass der Laden läuft, entsteht eine Tendenz, die für hochsensible Menschen so wichtige Pause zu vernachlässigen. Wenn ich im Rhythmus meiner nicht HS Berufskollegen arbeite, beginnt eine gefährliche persönliche Abwärtsspirale mit direkter Auswirkung auf meine wirtschaftliche Existenz.

Viel leichter vorgestellt habe ich mir ausserdem das Unternehmertum mit Kindern. Der Alltag mit Familie bedeutet keineswegs Pause. Um stabil und leistungsfähig zu bleiben, muss ich ausreichend Zeiträume für Regeneration und alleine sein schaffen. Diese Selbstfürsorge zwischen den wirtschaftlichen Herausforderungen als Unternehmerin und den Bedürfnissen der Familie ist für mich ist ein sehr herausfordernder Balanceakt.

Erfüllt und überrascht von den vielen Übereinstimmungen haben J.J., M.M. und D.D. das Kaffee in Bern verlassen und sich gleich wieder für das nächste Treffen verabredet. Im Zentrum der Diskussion wird das zentrale Thema stehen, dass alle 3 am meisten beschäftigt: Wie gelingt das optimale Ressourcen- und Selbstmagement, bzw. das Gleichgewicht im beruflichen Alltag?

Über den/die Autor*in

Arbeitsgruppe Wirtschaft Netzwerk HSP

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