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Ein Kinderleben mit geschärften Sinnen

Kürzlich war es da. Das Aha-Erlebnis. Er sah aus dem Fenster und bewunderte den schönen Ausblick aus seinem Arbeitszimmer. Nein, er bewunderte nicht, er träumte. Lehnte sich im Arbeitsstuhl zurück, verschränkte seine Arme hinter den Kopf und liess seine Seele in die Ferne schweifen. Von der unbebauten Wiese neben dem Haus hinüber bis zum Nachbarhaus. Er nahm das Schulhaus des Dorfes wahr, die einzelnen Dächer, die Hügel, das Grün, der satte blaue Himmel, die schäfchenweissen Wolken…Und weg war er. Versunken in der Ferne. Er fragte sich, wie lange er den Arbeitsort eigentlich schon benutze. Es waren zehn, vielleicht auch elf Jahre. Ja, elf Jahre und ein Halbes.

Diesen Gedanken liess ihn jäh ins Zimmer zurückkehren und er spürte seine eingeschlafenen Arme wieder, so auch die Rücklehne des Stuhles, die ihn in den Rücken stach. Elf Jahre und ein Halbes. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Sein Atem hielt an, bevor er laut von sich ging.

Und da war es. Das Aha-Erlebnis. Heute war etwas anders als sonst. Er sass mit dem Stuhl auf der anderen Seite des Pultes. Ein absolutes No-Go.  Hatte er sich vor Jahren nicht mit Absicht gegen diese wunderbare Sicht entschieden? Damit er eben NICHT aus dem Fenster träumte? Es wirkte. Mit festem Blick gegen die braune Holztür, die seine Gedanken auf den Bildschirm zurückreflektierten, um konzentriert und auf die Arbeit fokussiert zu arbeiten und um Leistung zu erbringen. Wehmütig über die Jahre, in denen er sich das Träumen verbot, liess er den Stuhl an seinem neuen Platz zurück, stand auf und verliess nachdenklich das Zimmer.

Das Verträumt sein ist nur ein mögliches Merkmal eines Hochsensiblen Kindes. Leichtes Erschrecken, Neigung zur Überstimulation, Zappelphilipp sein oder Spätentwickler, Gehemmtheit, Kreativität, Medialität. Diese und noch eine ganze Liste von Stichworten können einem Hochsensiblen Kind zugeschrieben werden. In allen Variationen und Farben. Viele zeigen bereits im Kindergartenalltag oder in der Schule Lernschwierigkeiten, brauchen engere Begleitung. Können Eltern und Lehrer vor Herausforderungen stellen. Nicht weil sie Minderbegabt sind, auch wenn die Zeugnisse davon zeugen könnten. Weil sie anders lernen. Intuitiv. Von klein auf.

Eltern spüren, wenn ihr Kind anders tickt. Eltern schauen hin oder sie schauen weg. Sie sind berührt und auf sich selbst zurückgeworfen oder sie gehen in die Haltung der Vermeidung. Der Umgang mit einem hochsensiblen Kind ist so vielfältig und unterschiedlich, wie das Facettenreichtum der Hochsensibilität als Ganzes selbst. In die Hochsensibilität fliessen auch die Besonderheiten eines AD(H)S oder der Hochbegabung. Ein Kind mit ADS kann gleichzeitig auch ein hochsensibles Kind sein. Ein Hochsensibles Kind wird aber auch häufig fälschlicherweise mit einem ADS stigmatisiert.

Ein Hochbegabtes Kind kann hochsensibel sein. Ein Hochsensitives Kind ist hochbegabt. Oft kann es seine mentale Stärke nicht leben, da das Schulsystem zu viele belastende Faktoren aufweist. Der komplexe innere Reichtum hochsensitiver Kinder fordert spezielle Berücksichtigungen. Es braucht individuelle Rahmenbedingungen. Eine ruhige Atmosphäre, Schularbeit mit Sinn und eine offene, ehrliche Kommunikation sind nur wenige Beispiele für eine gesunde Entwicklung. Ein Kinderleben mit geschärften Sinnen braucht aber vor allen Dingen eins: Akzeptanz und Liebe.

Mit dem frühen Erkennen der Hochsensibilität und der Anpassung der Lebens- und Lernbedingungen wird ein guter Boden geschafft. Die Früherkennung hat sich die Fachgruppe HS »Eltern-Kind-Schule» dem Netzwerk HSP angehörend, zum Ziel gesetzt.

Es soll eine Anlaufstelle für Eltern-Kind-Schule aufgebaut werden, Wissen soll geteilt und in Notfallsituationen Hand geboten werden. Eine Liste von Fachpersonen ist in Entstehung.

You may say I’m a dreamer.
But I’m not the only one.
I hope someday you’ll join us,
And the world will be as one.
(John Lennon)

Für die Fachgruppe HS-Eltern-Kind-Schule, Sabine Schmid

Über den/die Autor*in

Sabine Schmid

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