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„Psychologische Minen“ – wie nur 4 Emotionen bis zu 95% der Probleme im Leben eines hochsensiblen Menschen bestimmen

Jonas Greese

Hallo, ich heiße Alexander Luzgin und bin Psychologe sowie Gründer und Leiter der ВЧЛ (HSP – hochsensible Personen) Association in Russland.

In diesem Artikel werde ich Ihnen ein einfaches und praktisches Modell vorstellen, das ich in fast 10 Jahren Erfahrung mit hochsensiblen Menschen entwickelt habe. Dieses basiert die These, dass nur 4 Emotionen bis zu 95% der Probleme im Leben bestimmen.

Ich werde diese 4 Emotionen zunächst kurz vorstellen und anschliessend erläutern, was passiert, wenn sie zusammen auftreten. Das bezeichnen wir als „psychologische Mine“ und “Beschuss”.

Also, die 4 wichtigsten sozialen Emotionen

  1. Schuldgefühle – ein unangenehmes Gefühl, das aufkommt, wenn man einer anderen Person Unannehmlichkeiten bereitet hat. Manchmal reicht allein der Gedanke, dass man jemandem durch eigenes Handeln (oder Nichthandeln) Unbehagen bereiten könnte. Diese Gedanken lösen automatisch und unkontrolliert Schuldgefühle aus, die von HSP sehr unangenehm und belastend empfunden werden. 
  • Ressentiments bzw. Groll – treten auf, wenn man bestimmte Erwartungen, wie z.B. Vorstellungen, Wünsche oder Forderungen an Verhaltensweise von anderen Menschen hat, diese aber nicht erfüllt werden. Die unerfüllten Anforderungen an andere Menschen können mit der Zeit zu Groll und starken Ärgergefühlen führen. Sollten Groll und Ärger eine Person über längere Zeit überwältigen, kann es dazu führen, dass sie anfängt, sich selbst klein und hilflos zu fühlen. 
  • Schamgefühl entsteht, wenn man sich als “nicht gut genug” wahrnimmt. Es basiert somit auf den Ansprüchen an sich selbst (wie man sein muss), von denen HSP eine Menge haben. Wenn Sie sich in einer Situation befinden, in der Sie Ihren eigenen Ansprüchen und Vorstellungen nicht gerecht werden, empfinden Sie Scham und manchmal sogar ein tiefes Gefühl der Unzulänglichkeit. Manchmal ist die Scham so stark, dass sie sich wie eine existenzielle Bedrohung anfühlen kann. 
  • Neid – entsteht, wenn man sich selbst mit einem anderen vergleicht und feststellt, dass derjenige besser ist, als man selbst glaubt zu sein. Der Vergleich sowie das Aufkommen von Neid laufen spontan und automatisch: Dabei ist der Neid in der Gesellschaft immer noch oft tabuisiert, was dazu führt, dass dieses Gefühl unterdrückt wird. Lange Zeit galt Neid als „Sünde“ und deshalb glauben viele Menschen auch noch heute, dass „gute Menschen” auf andere nicht neidisch sein können bzw. dürfen. 

„Psychologische Minen” – Wenn zwei oder mehr Emotionen gleichzeitig auftreten

Wichtig: Die vier oben aufgeführten Emotionen sind allgemein bekannt. Was aber oft nicht wahrgenommen wird, dass die Kombination dieser Gefühle zu einer besonders starken emotionalen Erfahrung führen kann. Wenn mehrere Emotionen gleichzeitig getriggert werden, führt das bei HSP dazu, dass sie einen schmerzhaften emotionalen Zustand erleben, den ich explodieren einer psychologischen Mine nenne.

Dieser Zustand kann von der Intensität mit physischen Schmerzen verglichen werden und wird von HSP als verwirrend und unkontrollierbar wahrgenommen. Sollte der Zustand über längere Zeit andauern, führt er zur Verschlechterung des Allgemeinzustandes und letztendlich zu einer Depression

Unsere hochsensiblen Absolventen verwenden dafür gerne das Internet-Meme „bombing“, was so viel bedeutet, wie von eigenen Gefühlen komplett “überwältigtzu sein, so als würde die innere Gefühlswelt durch einen Trigger wie eine Bombe explodieren. (Ich weiß nicht, ob es ein ähnliches Meme auf Deutsch gibt). 

Übrigens gibt es neben den vier oben genannten Emotionen noch zwei weitere Emotionen, mit denen HSP oft Probleme haben, das sind Wut und Angst. Auch über sie sollten ein paar Worte gesagt werden.

Wut und Angst

Im Gegensatz zu Schuld, Groll, Scham und Neid, die zu soziale Emotionen sind, werden Wut und Angst als Basisemotionen bezeichnet. Sie sind buchstäblich in unseren Genen verankert. Bereits kleine Kinder können wütend und verärgert sein, ohne dies lernen zu müssen.

Wut bzw. Ärger ist die stärkste Verteidigungsemotion, die unsere Vorfahren evolutionär gebraucht haben, um Bedrohungen zu bewältigen und Hindernisse zu überwinden. So wie bei Neid ist es uns untersagt Wut in den meisten Situationen frei zu äussern (auch die Wut wurde in früheren Zeiten sogar zur Todsünde erklärt). Da die Wut wie auch das Atmen zu unserem Leben dazugehört und wir Wut im Alltag immer wieder fühlen, führt dies aufgrund von Tabuisierung bei HSP zusätzlich zu Schuldgefühlen. Beide Gefühle werden oft folglich unterdrückt. Somit haben HSP keine gesunde Möglichkeit, sich zu ärgern, was dazu führt, dass die Gefühle sich anstauen.

Angst ist auch ein Gefühl, das wir zum Überleben brauchen. Sie hilft uns bedrohliche Situationen zu vermeiden. Im Falle einer Gefahr triggert die Angst im Gegensatz zur Wut das Vermeidungsverhalten (Weglaufen, Verstecken, Erstarren). Somit hält uns Angst regelmäßig von Situationen ab, die uns gefährlich, traumatisierend oder schmerauslösend erscheinen.

Um das ganze Konzept zu verstehen, muss man wissen, dass Wut und Angst sehr oft Teil von „psychologischen Minen“ sind.

Wenn wir innerlich verletzt sind, können wir uns zum Beispiel mit Hilfe von Wut und Ärger verteidigen.

Angst wiederum hält uns sehr oft von Situationen fern, in denen eine psychologische Mine “explodieren” kann – dann, wenn unangenehme Emotionen auftauchen und zu einem belastenden, schmerzhaften Gefühlszustand führen werden.

Das ist Ihnen vielleicht bewusst, wenn Sie sich an die Angst vor einem Vorstellungsgespräch, einer Prüfung oder an die allgemeine Angst vor öffentlichen Auftritten erinnern.

Beispiel einer „Psychologischen Mine“

Normalerweise gibt es eine sehr klare und sichtbare „psychologische Mine“ mit 3-4 Emotionen. Z.B.: wenn ich bei einer Prüfung durchfalle, dann werde ich 1) wegen der Ungerechtigkeit verletzt sein; 2) bin ich schlechter als andere; 3) fühle ich mich dem Lehrer gegenüber schuldig; 4) schäme ich mich, weil ich nicht so gut reden kann, wie ich sollte.

Ein konstruktiver Umgang mit sozialen Emotionen reduziert Wut und Angst

Aus Erfahrung kann ich sagen, dass hochsensible Menschen, die für sich einen Weg gefunden haben, mit den vier sozialen Emotionen (Schuld, Groll, Scham, Neid) umzugehen, den beiden Emotionen Angst und Wut deutlich weniger Raum geben. Ebenso ist das Vorkommen an Irritationen und Ängsten stark reduziert vorzufinden.

Was ist an dem Modell der „psychologischen Minen“ gut und praktisch?

Ein hochsensibler Mensch muss nicht alle seine Einstellungen und Überzeugungen überprüfen, um Kindheitstraumata aufzuarbeiten, sondern einfach lernen, sich mit diesen 4 Emotionen anzufreunden. Folglich kann ein großer Teil der emotionalen Probleme (bis zu 95 %) allein, ohne Hilfe von aussen gelöst werden.

Mehr zum Thema

Wir haben ein Buch (das in der russischsprachigen HSP-Gemeinschaft sehr beliebt ist) mit dem Titel „Psychological Mines of Highly Sensitive People“. Außerdem bieten wir ein Trainingsprogramm namens „Psychological Bomb Squad“ an, in dem die Teilnehmer lernen können, mit ihren Emotionen und schwierigen Situationen umzugehen.

Über den/die Autor*in

Blog HSP-Netzwerk
Alexander Luzgin

Mit mehr als 20 Jahren Erfahrung als Psychologe ist Alexander Luzgin Präsident und Mitbegründer der Association of Highly Sensitive People and their Contributors (AHSP).

Derzeit ist er Mitglied der “Vereinigung für kognitive Verhaltenstherapie” und der “Professionellen Psychotherapeutischen Liga”.

Luzgin ist zudem Autor mehrerer Bücher, Artikel und Bildungsprogramme über die Psychologie hochsensibler Menschen.

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