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Spiritualität als Lebenselixier der Hochsensiblen

Die HSP-Tagung 2021 ist vorüber und wirkt in mir noch nach.

Als Organisator und Moderator ist es immer ein riesiger «Hoselupf» (zu deutsch grosse Anstrengung) diese Tage gut über die Bühne zu bringen. Aber all die Mühen finden auch einen guten Ausgleich in einem Gefühl der Befriedigung über ein aus unserer Sicht erneut gelungenes Event. Die schöne Atmosphäre, die vielen bekannten Gesichter und freudigen Begegnungen, aber auch die Inputs der ReferentInnen wirken jeweils in mir nach und ich freue mich darüber, hier aus der Distanz auch nochmals meinen persönlichen Prozess mit Euch teilen zu können.

Im Vorfeld dieses Blog-Artikels reihten sich verschiedene Fragmente von Erkenntnissen zusammen, die ich gerne mit euch teilen möchte. Im Zentrum dieser Gedanken stehen drei Hypothesen, die sich in mir zunächst als vages, dann immer stärkeres Gefühl herauskristallisiert haben in der Auseinandersetzung mit der Thematik der Hochsensibilität. Zudem zeigt sich mir durch eine intensivierte Meditations-Praxis, wie wichtig aus meiner Sicht eine gelebte Spiritualität ist. Und so schliesst sich auf wundersame Weise der Kreis der vagen Gefühle und gelebter Erfahrung.

Hypothese 1: Hochsensibilität kann mit Achtsamkeit ausgeglichen werden.

Diese Hypothese erscheint zunächst etwas unlogisch: Haben Hochsensible nicht zu viel Achtsamkeit?

Um diese Hypothese verstehen zu können, müssen wir zunächst einige Begriffe näher betrachten und die Dinge sorgfältig wieder zusammenfügen. Hochsensibilität oder Neurosensitivität wird von Michael Pluess 2015 kurz und bündig beschrieben als «Fähigkeit, Umgebungsreize zu registrieren und zu verarbeiten.» Dazu werden vier wichtige Merkmale benannt (vgl. Wyrsch, 2020):

  1. Erhöhtes Bewusstsein
  2. Erhöhte Empathie
  3. Vertiefte Informationsverarbeitung
  4. Anfälligkeit für Überstimulation

Es ist offensichtlich, dass Hochsensibilität zentral mit unserer Funktion des Bewusstseins zu tun hat. Der Psychiater und Philosoph Michael Depner beschreibt vier Funktionen des Bewusstseins: Wahrnehmen, Denken (innere Bilder), urteilen und eingreifen, wobei diese vier Funktionen eine gewisse kausale Abfolge darstellen: Ich nehme etwas wahr, denke darüber nach, schliesse den Gedankenprozess ab, indem ich zu einem Urteil gelange und greife dann entsprechend meines Urteils ein.

Achtsamkeit definiert Depner: «Etwas zu beachten heisst, die Beschaffenheit eines Objekts, einer Person oder einer Beziehung zu berücksichtigen. (…). Bevor der Achtsame etwas tut, überlegt er, um möglichst alle Aspekte des Wahrnehmbaren bei Entscheidungen miteinzubeziehen. Der Achtsame handelt nicht kopflos. Seine Taten haben Sinn und Verstand.» Zur Bedeutung von Achtsamkeit in dieser Kette schreibt Depner: «Erfolgreiche Eingriffe ins Leben sind Resultat eines geistigen Prozesses in vier Schrit­ten. Man nimmt erst wahr. Dann denkt man nach, urteilt und greift ein. Am Beginn des Prozesses steht Achtsamkeit. Achtsamkeit ist die aktive Bereitschaft, Wahres als Ausgangspunkt der nächsten Schritte anzunehmen. Je mehr Wahres sie entdeckt, desto eher fusst die gedankliche Deutung auf Tatsachen. Je mehr Tatsachen das Denken berücksichtigt, desto weniger spekuliert es ins Blaue. Je weniger es spekuliert und stattdessen Erkanntes kombiniert, desto klüger sind seine Urteile. Je klüger Urteile werden, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Eingriffe, die man durchführt, erfolgreich sind.»

Offenbar hat Achtsamkeit eine gewisse Entschleunigungs-Wirkung auf die Bewusstseins-Kette. Anstatt sich in den Wahrnehmungen (aussen) und Ideen (innen) in Turbulenzen ziehen zu lassen, ist es, wie wenn eine innere Kraft diesen Prozess verlangsamt und der Fokus bei der Achtsamkeit auf der Wahrnehmung liegt, wobei das bei Hochsensiblen hohe diskursive Denk-Grundrauschen beruhigt wird. Es ist, wie wenn eine innere Präsenz der Wahrnehmung eine ausgleichende Kraft gegenüberstellt. An dieser Stelle sind wir direkt beim zentralen Nutzen von allen Arten von Meditation, Kontemplation und Achtsamkeits-Praktiken angelangt. Aus meiner Erfahrung heraus sind dabei Achtsamkeitspraktiken mit direktem Körper-Bezug für Hochsensible besonders hilfreich und kühlen unser überhitztes Nervenkostüm effizient herunter.

Achtsamkeits-Übung:

Nimm dir einen Moment Zeit (wenn du jetzt weiterliest, wäre das ein Anzeichen, dich nicht wirklich auf die Inhalte mit deinem Sein einzulassen und, wie es so oft bei Hochsensiblen passiert, sich einfach nur mentales Futter einzuverleiben). Schau um dich, spüre die Kraft der Achtsamkeit in dir. Spüre, wie in deinem System mehr Ruhe einkehrt durch die Kraft der Achtsamkeit. Vielleicht spürst du, wie sich dein Körper entspannt. Richte deine Achtsamkeit nun auf den Körper und spüre, wie sich Entspannung ausbreitet. Woran spürst du sie? Kannst du zulassen, was sich in dir zeigt? Nimm dir einen Moment Zeit und spüre nach. Nimm wahr, wie die Achtsamkeit schützende Flügel über die bewegte Welt legt, einen Rahmen schafft, in dem Ruhe entsteht.

Hypothese 2: Hochsensible sind verletzlicher, verfügen aber über ein höheres Selbstheilungs-Potenzial.

In der Psychologie ist es eine anerkannte Tatsache, dass psychische Traumata, je weiter sie biografisch zurückreichen, eine umso grössere Auswirkung auf die Psyche haben. Klar, je Ich-schwächer, respektive je System-offener ein Lebewesen ist, umso verletzlicher und anfälliger ist es. In der Regel erscheint unserem rationalen Verstand eine Verletzung oder Krise als Makel, den wir gerne los wären. Nur, leider verfügt die Seele über keinen Delete-Knopf… Die einzige Möglichkeit ist offenbar eine tiefgreifende Transformation in unserer Seele im Sinne einer Flucht nach vorne in die Akzeptanz.  Dabei gilt es in einem Umdeutungsprozess jegliche Verletzung als wertvolles Gut wertzuschätzen und anzunehmen. Ein gutes anschauliches Beispiel dafür ist der spirituelle Lehrer Eckart Tolle. Es sagt von sich, dass er ein sehr sensibles Kind war, das enorm unter der Trennung seiner Eltern und den vorangehenden Streitereien gelitten hat. In diesem Umfeld erfuhr Tolle grosse seelische Verletzungen und Schmerzen und wie meist, wenn wir eben nicht achtsam sind, fristet dieses Leid im Schatten unseres Bewusstseins ein Eigenleben. Eckhart Tolle spricht hier von einem Schmerzkörper. Der Schmerzkörper versucht, seinen Träger oder seine Trägerin vor neuem Schmerz zu bewahren und labt sich am Leid anderer. Sein Handeln ist irrational und unreif, oft nach dem Muster Auge um Auge, Zahn um Zahn.

In Bezug auf die spirituelle Entwicklung erläutert Tolle, dass gerade spirituelle Menschen oft in ihrem Entfaltungsprozess aber angetrieben wurden von ihrem Leid und dass Menschen mit einem grossen Schmerzkörper durch den hohen Leidensdruck eine schnellere spirituelle Reifung durchmachen.

Tolle berichtet in einem Interview mit Oprah Winfrey im amerikanischen Fernsehen, dass er selber durch eine tiefe Depression, die ihn an den Rand eines Suizides geführt hat, zu einem spirituellen Erwachen gelangte.

In meiner Praxis arbeite ich oft mit traumatisierten Menschen und erkenne gerade bei Hochsensiblen, dass sie durch ihre hohe Bewusstheit und ausgeprägte Introspektionsfähigkeit auch ein sehr gutes Selbstheilungspotenzial haben. Hochsensible sind eben nicht nur verletzbarer, sondern auch offener für Heilprozesse und können sich auf diese intensiver einlassen.

Von daher ist die hohe Verletzlichkeit aus spiritueller Sicht, wenn sie denn aktiv genutzt wird, eigentlich ein Segen und bildet die beste Voraussetzung für inneres Wachstum und Reifung.

Übung:

Richte deine Aufmerksamkeit auf deine Verletzungen. Vielleicht kannst du dir vorstellen, dass sie wie verletzte Tiere oder Kinder deiner Aufmerksamkeit bedürfen. Begegne diesen Anteilen in dir liebevoll und mitfühlend. Lass dich berühren vom Leid dieser Anteile, und vielleicht verspürst du Impulse, wenn du deine Aufmerksamkeit auf diese Teile richtest, was dich und sie heilen kann. Lass diese Impulse einen Moment auf dich wirken und bedenke, wie du diese Themen achtsam in die Zukunft begleiten kannst.

Hypothese 3: Zentrale Ressource für das Selbstmanagement bei Hochsensiblen ist das Level an Vitalität und Lebensenergie.

Wenn ich die Vielzahl von Beiträgen der Hochsensibilitäts-ExpertInnen auf mich wirken lasse, bin ich erstaunt, wie oft gebetsmühlenartig immer die an sich einleuchtenden Ratschläge in verschiedenen Wortlauten wiederholt werden. Das Dilemma, in dem auch ich mich lange gefangen sah, ist tatsächlich, dass unsere Vernunft durchaus wüsste, was zu tun ist, wir aber anders handeln. Es war mir bewusst, dass Selbstfürsorge, Ruhepausen, Selbstliebe, Achtsamkeit etc. wichtig sind für mich, nur muss ich wohl mit vielen anderen Betroffenen konstatieren, dass ich nur beschränkt nach diesen guten Vorsätzen gelebt habe. Diese Transfer-Problematik erscheint mir ein riesiges Problem zu sein und es ist nicht einfach, hier einen Ausweg zu finden.
 An dieser Stelle erinnere ich mich an eine Aussage des Homöopathen Dr. Reimar Banis bezüglich einer möglichen Ursache für Sensibilität: „Die wichtigste Ursache für Probleme sensibler und energetisch offener Menschen beruht aber gar nicht so sehr darauf, ob der Betreffende ‚zu zartbesaitet‘ (…) ist. Das Kernproblem liegt allermeist in ungelösten seelischen Konflikten.“ Seelische Konflikte und Krisen führen dazu, dass unsere Belastbarkeit sinkt und wir anfälliger werden auf jegliche Störreize. Hier scheint eine ganz wesentliche Herausforderung zu bestehen: Sensible sind reizoffener und verletztlicher, Verletzungen führen zu Stress und einer Vitalitäts-Minderung und diese führt dann letztlich dazu, dass die Hochsensiblen, die an sich ja eine Affinität zu Spiritualität haben, in eigenen Stressmustern gefangen sind und im Hamsterrad drehen: Der unheilvolle Anfangspunkt dessen, was Patrice Wyrsch vulnerable Sensitivität oder die Schattenseiten der Hochsensiblen nennt. Wenn jemand in diesen Stressmustern gefangen ist, können aus meiner Erfahrung heraus all die guten und vernünftigen Ratschläge keinen fruchtbaren Boden finden und die Frustration, Erschöpfung und Resignation reichen sich die Hand zu einem makabren und traurigen Tanz.

Mehr als mir lieb ist, kenne ich diese Dynamik und erst spät habe ich erkannt, dass gerade eine gelebte Spiritualität den Boden bereitet für eine Aufwärtsspirale. Seit nunmehr mehreren Monaten praktiziere ich regelmässig Yoga und Meditation (ca. eine Stunde pro Tag) und spüre nun Veränderungen in mir, die ich als sehr ermutigend wahrnehme. Es ist, wie wenn jemand im Fitness-Studio einen Muskel nach einem Unfall wieder auftrainiert: Es braucht schlicht Zeit. Genauso ist es bei inneren seelischen Prozessen. Und das ist wohl der springende Punkt, wo viele gute Vorsätze und gutgemeinte Veränderungsimpulse versanden. Das ist aber auch der Punkt, wo ich mein eigenes Leben in die Hand nehmen und mich aus eigener Kraft aus der Ohnmachtsspirale herauswinden kann.

Übung:

Wann hast du dich in deinem Leben am vitalsten und kraftvollsten erlebt? Welche Faktoren haben dabei eine wichtige Rolle gespielt? Was brauchst du aktuell für möglichst optimale Rahmenbedingungen für ein kraftvolles, selbstbestimmtes Leben und wie kannst du dir diese Bedingungen schaffen?

An der HSP-Tagung 2020 habe ich versucht darzustellen,

dass Hochsensible temperamentsbedingt einen guten Zugang zum integralen Bewusstsein haben und die Spiritualität eine wichtige Ressource ist. Jutta Böttcher spricht in diesem Zusammenhang ja auch vom Paradiesgen der Hochsensiblen. Die Spiritualität als Ressource wird meiner Erfahrung nach den Hochsensiblen aber auch nicht geschenkt. Vielleicht müssen sie sie sogar härter erarbeiten als andere. Es braucht einen soliden Weg hin zum Kontakt zum grossen Geheimnis des Lebens. An der Tagung 2021 habe ich mit Ganesh J. Bormann einen durchaus in mancherlei Hinsicht unspektakulären spirituellen Lehrer vorgestellt, der für mich einen solchermassen gearteten soliden Weg bereitet hat. Sicher gibt es noch viele andere, auch ganz andere Wege, die zum Ziel führen. An dieser Stelle wäre ein Austausch und Hinweise von anderen, die ihren Weg hin zum grossen Ganzen und der machtvollen Stille in uns gefunden haben sicher für mache Sucher hilfreich auf ihrem Weg zum Lebenselixier der Hochsensiblen.

Weiterführende Links von Michael Depner:

Achtsamkeit: https://www.seele-und-gesundheit.de/psycho/achtsamkeit.html

Glossar mit interessanten Ausführungen: https://www.seele-und-gesundheit.de/index.html#test

Über den/die Autor*in

Martin Bertsch
Martin Bertsch

Martin Bertsch ist als Geschäftsführer das Rückgrat der Visions Schmiede. Als Sozialarbeiter FH, professioneller Coach BSO und ICF, psychologischer Berater und Atemtherapeut IKP verfügt er über über ein ausserordentlich breites berufliches Fundament. Seit 2003 ist er im Bereich Integration und Case Management tätig und bringt eine enorme Erfahrung in diesem Bereich mit. Als Ausbildner und Entwickler von Coaching-Methoden baut er Brücken zwischen neuen Forschungserkenntnissen und der Beratungspraxis.

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